Ein Baum wächst übers Dach
Soldaten hatten eine Gulaschkanone mit gekochten Erbsen stehenlassen. Ich lieh mir eilig einen anderen Eimer und kehrte zur Flakbaracke zurück.
Leos Essensträger wurde zum Triumph. Es gab fünfmal am Tag Nudeln und dann noch ein letztes Mal vor dem Schlafengehen. Mama zog sorgfältig die Vorhänge zu, damit wir nicht bei einer Nudelorgie überrascht wurden. Sie hielt sie für widerrechtlich erworben und fuhr erschreckt zusammen, als es wieder einmal zur Unzeit klopfte. Da Leo, einen der vielen leeren Gasmaskenbehälter voller Nudeln als Proviant mitführend, in die kleine Kreisstadt geradelt war, öffneten wir nur sehr vorsichtig. Diesmal war es einer jener Bauern, die den Zucker der Kleinkinder weggefahren hatten, und mit denen wir uns so intim wähnten. Er wähnte sich nunmehr intim genug mit uns, um Papa zu bitten, sein Jagdgewehr bei uns verstecken zu dürfen, weil wir doch Ausländer seien. Es war seltsam wohltuend, einmal nicht bitten zu müssen, sondern gewähren zu dürfen. So vergaß ich denn, mich darüber zu ärgern.
Abends kochten wir beim Schein eines Talglichtes die halbgaren Erbsen ganz gar. Es war sehr schwer, sie brannten sofort an. Alle, die das Kriegsende in unser Sommerhaus gespült hatte, mußten je eine Viertelstunde langsam darin rühren. Aber wir wurden wenigstens alle einmal richtig satt, auch das Ehepaar hinter der Zugbrücke, und es war eine Abwechslung nach all den Nudeln.
Nachts setzte leichtes Schneetreiben ein. Es war dies eine uralte Tradition Seehams: Schneetreiben anfangs Mai. Es hatte ja auch immer so besonders drollig geklungen, wenn die BdM-Chöre auf der Maifeier im Radio sangen: «Der Maien, der Maien, der bringt uns Blümelein...» Der Schnee dämpfte das Getöse der Hunderte von Wagen und Soldaten. Es wurde stiller. Man hörte manchmal Kühe muhen und Hunde bellen, wie früher auch.
Der nächste Tag war sonnig und freundlich. Nur ein klein wenig Schnee war oben auf den Bergkuppen liegengeblieben wie Puderzucker. Die Straßen waren sehr schmutzig, weil sie in aufgeweichtem Zustand von zu schweren Militärfahrzeugen zerwühlt worden waren. Soldaten waren kaum noch zu sehen, sie schienen sich irgendwie verteilt zu haben. Wir hätten gerne aufgeatmet, aber im Kampf um die tägliche Nahrung durfte es kein Nachlassen geben. Ab neun Uhr hatte ich bei der Molkerei um Quark anzustehen.
Papa und Leo rückten aus und kamen mittags mit folgenden Dingen zurück: Drei leeren Kanistern, Putzbenzin, zwei Grubenlampen aus dem See, noch brauchbar, Klingeldraht, einem Vorschlaghammer, sechs Scheuerlappen, die einmal etwas Militärisches gewesen sein mußten, und neun Akkumulatoren.
«Aber Leo, wozu denn Akkumulatoren?» fragte Mama.
«Man kann nie wissen», sagte Leo.
Die Männer wurden anerkennend geküßt und bekamen wieder Nudeln. Bei dieser Mahlzeit konnte man sich schon vorstellen, daß man vielleicht später einmal nicht mehr so gerne Nudeln essen würde, aber es war nur eine ganz schwache Regung.
Auch der Vetter, dankbar für Kost und Logis, war nicht müßig gewesen. Auf einem Streifzug im Walde fand er außer etwa fünfzig Maschinengewehren, drei Panzerfäusten und zweihundert Stahlhelmen ein schweres Fäßchen, halbvoll mit einer teerigen Masse. Sicherheitshalber und weil es nahezu nichts gab, das man nicht doch verwenden konnte, lud er es auf den Gepäckträger seines von mir geliehenen Rades und schob es nach Hause. Das Rad stieg vorne von Zeit zu Zeit wie ein Lipizzaner bei der Levade, und der Vetter war völlig naßgeschwitzt, als er heimkam. Zu Hause umstanden wir alle das Faß ehrfurchtsvoll, faßten hinein, rochen daran. Kein Zweifel, es war dicker Maggiextrakt.
«Bißchen darfst du dir nehmen, für die Suppen», keuchte Leo, der das Faß in den Schuppen wuchtete, «den Rest tauschen wir ein, wenn es ruhiger geworden ist und die Börse etwas angezogen hat! Los, weiter! Den Strand absuchen — heute früh sind hier Lastwagenladungen ausgekippt worden, wer weiß, was es alles war!»
Ich machte mich selbständig. Im Hof hinter der Schreinerei stand ein verlassener Heuwagen voller Ehrendolche, Gewehre und Stahlhelme. Ich zog mich an seinem Rande hoch und äugte intensiv in die schimmernde Wehr. Am Grunde des Wagens erblickte ich eine Wolldecke. Sie war patschnaß von getautem Schnee, und es war sehr schwer, sie unter all dem Eisen hervorzuzerren, aber der Lohn blieb nicht aus: es war nicht eine Decke, sondern es waren drei. Aus der ersten machten wir eine Joppe für
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