Ein Baum wächst übers Dach
bin vom Rhein und will nach Hause. Ich schenke Ihnen auch meinen Wagen.»
Ich schüttelte traurig den Kopf. Ein Fahrrad war jetzt viel mehr wert als ein Militärfahrzeug.
Um halb neun Uhr wurde Leo unruhig und meinte, es gäbe doch sehr viele Frauen mit Kindern in Seeham, wir sollten uns wegen des Zuckers doch schon bei der Flakbaracke anstellen. Als wir hinkamen, war kein Mensch zu sehen. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen. Es ging auch nicht mit rechten Dingen zu.
Beim Näher kommen bemerkten wir, daß die Fensterscheiben der Baracke eingedrückt, ihre Türen aus den Angeln gerissen waren. Der Boden des Lagerraumes war mit zertretenen, halb aufgerissenen Konservendosen bedeckt. Der herrliche deutsche Mensch schien hier mit Begeisterung gewirtschaftet zu haben. An der Wand lehnten etwa sechzig ausgetrunkene Flaschen, deren Hälse abgebrochen waren, und über die ganze Wüstenei war etwa ein Kilo roter Paprika verstreut. Auch die Kojoten verunreinigen ja immer alles, was sie nicht mehr fressen können, damit kein anderer es kriegt.
Ein Augenzeuge, der sich noch am Ort der Tat herumtrieb, wußte mit schwerer Zunge (er hatte wahrscheinlich die Reste ausgetrunken) zu berichten, die Bauern seien nachts gekommen und hätten mit Wagen und Traktoren alles abgefahren, was in den Säcken war, er wolle aber keine Namen nennen. Er verstieg sich zu der Behauptung, es seien ganze Batterien von Schnapsflaschen in Stallungen und Waschküchen eingemauert worden, er dürfe nur nicht sagen, wo. Siehe da, von dieser Seite kannten wir die tüchtigen Seehamer noch nicht. Wir kannten aber auch uns nicht, wie es schien. Ich sah Leo erbleichen. Leo erbleicht nur aus einem einzigen Grunde: aus Wut. Er warf mir die leere Einkaufstasche zu, die er aus Höflichkeit bisher getragen hatte, und trat an mir vorüber ins Innere der Baracke. Bei dieser Gelegenheit bemerkte ich zum ersten Male, wie mager er geworden war. Man sah seine Zahnreihen von außen durch die Backe. Aber ich sah noch mehr. Es war, als fielen mir die sprichwörtlichen Schuppen von den Augen. Ich sah, daß wir mit unserer Zurückhaltung und Ehrlichkeit stets die Dummen gewesen waren, so wie hier und jetzt. Wie bescheiden war Mama zurückgewichen, um an einer Ecke des Bäckertisches der Seehamer Bäckerei unser Blech Weihnachtsplätzchen aus Schwarzmehl und selbstgekochtem Sirup auszurollen, während einheimische und evakuierte Hausfrauen neben uns zwei Waschkörbe voller Buttergebäck aus dem Ofen zogen. Wie klaglos hatten die Eltern an Winterabenden heißes Wasser getrunken, um sich vor dem Zubettgehen zu erwärmen, während das Holz ringsum am Stamme wuchs und anderen Leuten gehörte. Ich bekam einen unsinnigen, panischen Zorn.
«Schluß — aus», sagte ich ganz laut zu mir selber, und es hallte in der leergeplünderten Baracke wider. «Ab jetzt wird alles ganz anders.»
Ich stand auf dem gleichen grimmigen Punkt meiner Entwicklung wie die vom Winde verwehte Scarlett O’Hara und brauchte mich vor meinen Entscheidungen gar nicht erst in einem Radieschenbeet zu übergeben. Noch während ich die leere Tasche auf den linken Arm hängte und den Fuß über die Schwelle setzte, bekam ein bisher vernachlässigter Teil meines Wesens in mir die Oberhand: die Furie.
Im dritten aufgebrochenen Raum fand ich eine Kiste, in deren Ecken und Deckelleisten sich noch Mehl befand. Ich kratzte es mit allen zehn Fingern heraus und schaufelte es in meine Tasche. Es reichte vielleicht für zweimal Mehlbrei. — Die Kellertür trat ich ein und fand drunten etwa zehn Zentner unfreundlich schimmernder roter Rüben und ein Häufchen Kartoffeln.
«Leo, wo bist du?» rief ich hinauf. «Hilf mir mal.»
«Nein, ich geh jetzt heim», tönte es. Ich stieg an die Oberwelt und sah Leo mit einem gewaltigen, verschlossenen Essensträger in der Hand.
«Was hast du denn da?»
«Gekochte Bandnudeln in Sauce.»
«Gut!»
«Und du?»
«Bißchen Mehl, einen Besen, ein Feuerlöschgerät und eine elektrische Birne. Los, heim!»
Ich stürzte nach Hause, um mir für die Kartoffeln und die Rüben, die den Seehamern zu gering dünkten, einen Eimer zu holen. Mama begegnete mir beim Landungssteg. Sie hatte Dicki an der einen Hand, in der anderen den Eimer. Dicki lauschte verzückt dem fernen Hornissengesumm in der ganzen Gegend, hob eines seiner Fäustchen und teilte seiner Umgebung mit: «Wu! Wu! Eisenhaua tommt!»
Es erwies sich, daß Mama den Eimer selber brauchte. Die durchziehenden deutschen
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