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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Sommerhaus.
    Es war uns gelungen, vom Kriege unberührt zu bleiben. Vom Siege unberührt blieben wir nicht. Die Wiese der Nachbarin wurde zum improvisierten Fußballplatz, Kaugummiumhüllungen und Orangenschalen füllten unsere Hecke, und wenn der Ball sich verirrte, kamen halbnackte Gestalten sämtlicher Rassen und Farbschattierungen durchs Milchholtörchen gelaufen und suchten ihn sich wieder.
    Mama hatte Bedenken, weil Leo, Michael, der Vetter und Papa alle so groß und germanisch aussahen, und schlug schüchtern vor, es sei vielleicht gut, an Vorder- und Hintertür ein Plakat mit unseren längstvergessenen holländischen Landesfarben anzubringen.
    «Meinetwegen», sagte Leo. «Ich weiß nicht mehr, ob sie längs- oder quergestreift ist, die Fahne. Man kann ja doch auf englisch was dazuschreiben. Papa, hast du nicht einen alten Skizzenblock?»
    Wenn Mama gehofft hatte, daß man uns nun in Ruhe ließe, weil wir so halb und halb zu den Alliierten gehörten, so hatte sie sich getäuscht. Das Gegenteil war der Fall. Von Stund an wimmelten Haus und Garten von jugendlichen Uniformierten, die mit den echten Einheimischen nicht fraternisieren durften und sich bei uns endlich einmal aussprachen. Die einen verlangten zu erfahren, wo sie ihre Wäsche waschen lassen sollten, wo man Eier, wo Schnaps kaufen könne. Andere wollten frisches Wasser trinken oder auch einfach nur die entsetzlichen Eindrücke loswerden, die sie in den soeben befreiten Konzentrationslagern empfangen hatten. Ein junger Mann in voller Rüstung saß neben der offenen Küchentür auf einem Hocker, nahm zur Kenntnis, daß auch ich nichts von all den Greueln gewußt habe, und weinte über das, was er gesehen hatte. Ich stand am Tisch, schälte Kartoffeln und weinte mit.
    Einer kam, als wir gerade auf der Veranda aßen, schwenkte ein Bündel Forellen — sie stammten sichtlich aus dem Seehamer Dorfbach — und fragte barsch: «Can you cook these?» Stets froh, dem Sieger nur in Kleinigkeiten zu Willen sein zu müssen, erhob ich mich seufzend, um das Herdfeuer mit einigen Stücken selbstgefischten Seeholzes wieder in Gang zu bringen. Da kam heraus, daß er mir die Fische hatte schenken wollen. Den rüden Ton hielt er für Vorschrift. Ein einziger Amerikaner hatte einmal so etwas wie Zweifel beim Betreten unseres Hauses. Er lehnte sich von innen an die Haustür und fragte mit einem mißtrauischen Blick auf alle meine Männer, deren Länge wesentlich über 1,80 lag: «Who tells me you are not all SS?»
    Papa räusperte sich. «My dear boy», sagte er milde, «if we were SS, we wouldn’t be here, we would be hiding in the woods. Come right in and have a nice cup of tea.»
    Für jede kleine Gefälligkeit, ja sogar für eine Auskunft revanchierten sich diese Jungens in den prachtvoll sitzenden Hosen geradezu fürstlich. Sie ließen uns Zigaretten da, Kaugummi, eine Konservendose, Candy oder eine Orange für Dicki, die erste seines Lebens. Dicki sah seine Vorstellungen von den Eisenhauers aufs beste bestätigt, und wenn einer den Garten betrat, lief er ihm entgegen und gab ihm unaufgefordert die Hand.
    Eines Abends hätte es beinahe Schwierigkeiten gegeben. Ein Sergeant kam, um sich mit Papa über Rußland zu unterhalten. Kaum hatte er die Beine gemütlich auf dem Tisch, da donnerten Schläge an die Tür. Bruder Leo zur Seite stoßend, wankte ein Soldat herein, das Gewehr im Anschlag. Mama griff sich Dicki und verschwand diskret in ihr Zimmer. Vom Schreibtisch her sagte der Sergeant mit gedämpfter Stimme: «Put that gun down, Pop.» Die Augen des Soldaten wurden kreisrund und kindlich vor Staunen. Alles hatte er erwartet, selbst eine Versammlung von Werwölfen, aber nicht seinen Vorgesetzten beim Tee. Er rüstete ab, machte aus seinen Waffen einen niedlichen Berg auf dem Wohnzimmerteppich und legte den Stahlhelm obendrauf, ehe er sich artig hinter seine Tasse setzte. Weil er so furchtbar betrunken war, machte ich den Tee stark genug, um einen Ochsen damit zu töten. Den Soldaten Pop ernüchterte er ein wenig und alles schied in Frieden.
    Als die Amerikaner etwa vier Wochen rings um unser Haus residiert hatten, kam eines der berühmten italienischen Tiefs, die die Sommer in Seeham auszeichnen. Es goß Tag und Nacht. Der von Trucks ausgefahrene Feldweg hinter dem Haus und der Bach vor dem Haus begannen einander stark zu ähneln. Eines Nachts hörte man etwas lallen und in gewissen Abständen gurgeln. Jemand watete, Choräle singend, den Bach entlang und fiel von

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