Ein Baum wächst übers Dach
Papa, aus der zweiten einen Wintermantel für Dicki. Die Zuschneidereste kamen zwischen die Doppelfenster. Die dritte mußte den ganz zerfransten Verdunkelungsvorhang ersetzen. Die Verdunkelung ging seltsamerweise weiter.
Mama, die eine wirkliche Dame war und somit zum Plündern gar nichts taugte, begrüßte uns, wenn wir beutebeladen in die Festung zurückkehrten, mit freudig über dem Kopf zusammengeschlagenen Händen, was uns das Gefühl vermittelte, tüchtige Kerle zu sein. An dem Tag, als ich die drei zinnernen Abwaschschüsseln brachte und wir am Nachmittag den Lastwagensitz und den Sessel aus dem alten Mercedes unweit des Steinpilzplatzes ausmontierten, rang sie die Hände sogar mehrmals hintereinander. Die meiste Zeit achtete sie auf Dicki, den man wegen der vielen weggeworfenen scharfen Munition nicht unbeaufsichtigt spielen lassen durfte, und hielt Vorder- und Hintertür verschlossen, weil man sich über die Natur der nächsten Besucher nicht ganz klar war.
Das schutzsuchende Zugbrückenehepaar hatte sich überzeugt, daß nichts sich verändert hatte, und beschloß, wieder aufzutauchen. Sie waren keine Stunde weg, da rollte, von den Seehamer Kindern offenen Mundes bestaunt, der erste amerikanische Panzerspähwagen durch die Dorfstraße. Die Insassen stiegen gar nicht erst aus und waren sofort wieder verschwunden. Später kamen andere Amerikaner, hochmotorisiert, sahen niemanden an, rasteten, kochten sehr viel gutes Essen auf Ölfeuerherden, aßen wenig und vergruben, was übrigblieb. Seeham lag abseits der großen Straßen und so blieb ihr Kommen und Gehen ohne Sensation. Es hieß, sie hätten die deutschen Soldaten in große Lager zusammengefaßt.
Wo blieb nur Michael? Er mußte mit seinem sich absetzenden Stabe nicht allzuweit von Oberbayern entfernt gewesen sein, als man im Radio, sofern Strom vorhanden, die Götterdämmerung hörte. Ich hoffte, daß Sankt Expeditus sich der Sache schon annehmen würde, und ging auf neue Streifzüge — ja, ich schnürte ab wie ein Fuchs auf Beutesuche.
An einem der schönsten Aussichtspunkte der ganzen Gegend, von dem aus der See wie ein Metallschild dalag und die fernen Berge dahinter von ihm in ein klares Oben und Unten zerschnitten wurden wie Spielkarten, hatten die deutschen Landser, selbst bei einer Kapitulation noch voller Ordnungssinn, ihre Lastwagen hübsch im Kreise geparkt. Es waren lauter solche, wie man sie mir zum Geschenk angeboten hatte, und ich betrachtete sie mit einer gewissen Rührung. Die einzige Menschenseele weit und breit war ein amerikanischer Posten. Zufällig war es der gleiche rotblonde Jüngling, der am Tage vorher am Strand mit Dicki Ball gespielt hatte. Er erkannte mich sofort. «Sorry, honey, you can’t go in there, it’s verboten», sagte er sanft, als ich mich raffgierig glimmenden Auges dem Pool durchnäßten deutschen Heeresgutes näherte.
«Come, come now», sagte ich begütigend und schlüpfte zwischen den Rädern durch. Der junge Sieger blickte zur anderen Seite und sah sich die weißen Kirchtürmchen am Horizont an, was sehr nett von ihm war. Ich schwang mich auf den nächsten Wagen, wobei ich mir die Schienbeine braun und blau schlug, riß die naß an einem Stock baumelnde Kapitulationsfahne herunter, bemerkte erfreut, daß es sich um ein guterhaltenes Leintuch handelte, und breitete es aus. Mit einem in dem Führerhäuschen gefundenen Stahlhelm schaufelte ich aus den geplatzten Säcken einen Berg Hülsenfrüchte hinein, sagte mir energisch vor, daß es gar nichts ausmache, wenn der Inhaber des Helms Krätze gehabt hatte, die Linsen und Bohnen würden ja sowieso gekocht, packte noch etwa zwanzig Schachteln Trockengemüse Marke Julienne und ein Kommißbrot obendrauf, knotete die Zipfel des Leintuchs zusammen und sprang vom Wagen. Das Ganze hatte keine fünf Minuten gedauert. Auf allen vieren kriechend erreichte ich mit der Beute das Gebüsch, und dort ruhte ich erst einmal aus. Ich bedauerte heftig, weder Papa noch Leo oder den Vetter bei mir zu haben, sie hatten größere Kräfte. Der Abtransport wäre noch gegangen, wenn ich nicht unter dem Sitz des Führerhäuschens ein Glas mit Rhabarberkompott gefunden und mitgenommen hätte. Da ich keine Hand mehr frei hatte, steckte ich es mir vorne ins Kleid, und dort rutschte es immerzu.
Erfüllt von den Gefühlen, die den Ritter Kunz von Kauffungen bei der Heimkehr von einem Raubzug erfüllt haben mögen, näherte ich mich mühsam meiner heimatlichen Burg. Die Familie war nicht
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