Ein Berliner Junge
müde.« Meinem vielgeschäftigen Treiben sah sie kopfschüttelnd zu und warnte wohl: »Junge, du wirst auch noch dahin kommen, daß du dich fragst, ob das Leben überhaupt wert ist, daß man sich so in ihm müht!«
Zuweilen kamen Stunden, in denen sie um ganz kleiner Ursachen willen außerordentlich heftig werden konnte. Ich kannte in jener Zeit einen Doktor M., der mit seiner Mutter, der Witwe eines bekannten Künstlers, zusammenlebte und der mir klagte, daß seine Mutter ihm Auftritte bereite, denen er völlig verständnislos gegenüberstehe. Nach dem Tode ließ er sie sezieren. Da fand sich die Erklärung in irgendeinem krankhaften Auswuchs im Gehirn. Ich erklärte viel unbegründete Heftigkeitsausbrüche Mutters ähnlich und bat sie, doch einmal den Arzt zu Rate zu ziehen. Sie sagte, sie hätte auch schon gefürchtet, zuckerkrank zu sein, da sie an unstillbarem Durst litte. Sie hätte auch einen Arzt gefragt, der aber hätte sie lachend getröstet: »Ich wünschte, ich wäre so gesund wie Sie!«
Bald aber bildete sich eine Wunde am Fuß. Sie verbarg es vor mir. Aber als wir einmal vom Grabe des Vaters kamen und über das große Tempelhofer Feld gingen, konnte sie plötzlich nicht weiter. Ich erzwang eine ärztliche Behandlung. Es war zu spät. Das Übel wurde immer schlimmer, und endlich riet der Arzt, sie in ein Krankenhaus zu bringen. Es war ein böser Tag, als ich von einem Krankenhaus zum andern fuhr und überall abgewiesen wurde: »Alles besetzt!« Zuletzt blieb nur die Charitè. Mutter, die als alte Krankenpflegerin ja etwas verstand, war mit ihrer Pflege sehr zufrieden. Ich habe natürlich jede Besuchszeit hindurch an ihrem Bett gesessen. Und wenn sie dann meine Hand streichelte und sagte: »Junge, glaube, du bist ein guter Junge!« so haben diese leisen Worte durch die Jahrzehnte ihren Klang nicht verloren. Der Fuß wurde abgenommen - auch das rettete sie nicht mehr. Sie starb an Zuckerharnruhr am 17. Juli 1893.
Wieviel gäbe man darum, könnte man Vater und Mutter noch einmal später, wenn uns das Verständnis des Lebens aufgegangen ist, liebhaben und ihnen danken für alles, was sie an uns getan haben. Wer sich ein wenig umsieht, weiß, was es allein bedeutet, daß sie uns einen gesunden Leib und einen gesunden Geist auf den Weg ins Leben mitgegeben haben!
Vater hatte Mutter natürlich zur alleinigen Erbin eingesetzt. Als sie starb, ergab sich, daß das ganze Vermögen der Eltern 16 000 Mark betrug, eine Summe, die trotz ihrer Kleinheit groß war, wenn man weiß, wie sie zusammengetragen war: eine Mark zur andern erarbeitet und entbehrt, damit den Kindern die Bahn des Lebens leichter werde! Und doch, wie wünschte ich, sie hätten es nicht in diesem Maße getan; sie hätten davon ein paar tausend Mark genommen, um das eigene Leben mit mehr Licht und Wärme zu erfüllen!
Kinderliebe? Wer löst das große Lebensrätsel? Den Kindern erscheint es selbstverständlich, daß die Eltern für sie arbeiten und sorgen - daß sie dann ihre Wege gehen, ihre Sorgen haben und nur so nebenbei etwas Zeit und Kraft übrigbleibt, sich in die Gedanken, in die Wünsche, in das Leben der alternden Eltern hineinzuversetzen. Das wird für jeden ernsten Menschen zu quälenden Fragen über sich, über seine Kinder - bis im reifen Alter eine Art Lösung kommt. Die Liebe, die wir den Eltern nicht zurückerstattet haben, müssen wir an unsere Kinder weitergeben. Diese müssen dann wohl im wesentlichen dieselben Wege gehen, wie wir sie gegangen sind. Auch sie werden wohl erst, wenn sie einst selber Kinder haben, in voller Deutlichkeit empfinden, was auch ihnen Elternliebe einst gab, und sie müssen dann, was sie uns nicht wiedergaben, ihren Kindern weiterreichen, so daß doch im großen Zusammenhang der Geschlechter Liebe und Recht zu harmonischem Ausklang kommen.
ebook Erstellung - November 2009 - TUX
* * *
Ende
Bücherverbrennung - Bild
Weitere Kostenlose Bücher