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Ein Berliner Junge

Ein Berliner Junge

Titel: Ein Berliner Junge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adolf Damaschke
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einjährigen Besuch jeder Klasse fordert.
     
     
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Vom Falsch- und Nichtverstehen
     
    Daß ich die unteren Klassen so schnell durcheilte, war nicht in jeder Hinsicht günstig. Ich habe merkwürdige Mißverständnisse mit mir herumgetragen. Ein Kirchenlied, das auf der Unterstufe gelernt und oft wiederholt wurde, hatte z. B. nach dem »verbesserten« Text eine Strophe, die lautete:
»Ach bleib mit Deinem Segen
Bei uns, Du reicher Herr,
Gib Wollen und Vermögen
Zu Deines Namens Ehr'.«
     
    Eine Erklärung gab es nicht. So versuchte ich sie selbst. Vermögen Wohlstand schien mir klar. Daß man darum bitten könne, sah ein Junge, der um seiner Armut willen auf vieles verzichten mußte, ohne weiteres ein. Aber warum dies Vermögen gerade mit Wollen, also wohl doch mit einem Wollgeschäft, zusammenhängen sollte, schien mir lange eine unverständliche Liebhaberei des Dichters. Später habe ich von anderen Mißverständnissen ähnlicher Art erfahren. So konnte in dem Kirchenlied: »Lobt Gott, ihr Christen allzugleich« bei der Aussage vom Heiland: »... denn er ist Davids Reis« - das Kind nicht begreifen, weshalb Christus dem armen David seinen Reis aufesse.
    Lieder erklären, wird ja stets eine der schwersten Aufgaben bleiben. Man verdirbt sie, wenn man sie zerpflückt, und doch ist es geradezu verheerend, wenn in ihnen falsche Vorstellungen wirken.
    Als ich lesen lernte und, stolz auf die neugewonnene Kunst, auf der Straße jedes Schild buchstabierte, erschloß die neue Welt neue Rätsel. An vielen Kellergeschäften, aber auch Eckläden, buchstabierte ich den Namen »Franz. Billard«. Merkwürdig, daß alle Menschen, die so hießen, in Kellern oder an Ecken wohnten und vor allem, daß doch keiner von uns einen Jungen kannte, der so hieß. In keiner Klasse war ein Träger dieses Namens zu finden. Erst viel später lernte ich, daß dieser Name ankündigen sollte, daß ein französisches Billard zur Verfügung stehe.
    Auf einem anderen Gebiet lag mein Nichtverstehen von Worten in der biblischen Geschichte wie: »Er starb alt und lebenssatt.« »Lebenssatt« - wie jemand diese Sonne, dieses Leben und Arbeiten einmal satt bekommen - wie jemand wirklich zufrieden sein könne, wenn er Abschied nehmen müsse von dem allen, dafür fand ich in der Kindheit und noch lange darüber hinaus kein Verständnis. Auch das ist inzwischen gekommen - in manchen Stunden in erschreckender Klarheit.
     
     
 
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Was ich konnte und was ich nicht konnte
     
    Schon am 1. Oktober 1875, im Alter von neun Jahren, saß ich in der ersten Klasse der 8. Gemeindeschule. Mit dieser Schule war eine Volksbücherei verbunden, in der die Tochter des Rektors
Bielefeld
tätig war. Ich war bald einer der eifrigsten Besucher dieser Volksbücherei und sah als neun- und zehnjähriger Junge die schöne, immer liebenswürdige Tochter des Rektors mit Ehrfurcht. - Die Schule machte mir keine Schwierigkeiten. Ich blättere die Zeugnisse durch, meist »Recht gut«, bis auf Gesang. Mir fehlt jedes musikalische Gehör, und es war mir stets unverständlich, wenn jemand urteilte: der spielt unrein, oder: das ist ein falscher Ton! Ich bewundere den Lehrer, der mir einmal »Befriedigend« in Gesang gab. Er hat augenscheinlich meine Stimme nie erprobt. In der Regel steht »Ungenügend« da, was ich immer als Unrecht empfand. »Unfähig« hielt ich für gerechter. Luthers bekanntes Wort: »Einen Schulmeister, der nicht singen kann, den sehe ich nicht an«, weckte in mir stets ein Gefühl stärksten Widerspruchs. Aus dem völligen Mangel an musikalischem Gehör entsprang eine Abneigung gegen jede Art von Musikunterricht. Die Eltern hatten irgendwo ein altes Klavier erstehen können. Ich mußte nun Unterricht nehmen. Die arme Dame in der Lothringer Straße, zu der ich in der Woche zweimal hinpilgern mußte, hat wahrscheinlich ebensowenig oder noch weniger Freude an diesem Unterricht gehabt als ich. Ich habe später vielfach mit Wilhelm Busch geseufzt: »Musik wird oft nicht schön gefunden, weil sie stets mit Geräusch verbunden.« Eine halbe Stunde Übung auf dem Klavier war eine von den Strafen, die ich am meisten fürchtete. Eines Tages hatte ich auf den alten Windmühlbergen, die nun auch schon lange mit Mietkasernen besetzt sind, wohl beim Drachensteigen oder bei einer anderen Gelegenheit irgendeinen Kampf zu bestehen gehabt und Kratzwunden dabei erlitten. Damit Mutter sie nicht gleich beim Nachhausekommen sehen sollte, setzte ich mich unaufgefordert ans

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