Ein Berliner Junge
gewöhnlichen Weg der »höheren« Bildung gehen können. Wie hätte sich mein Leben gestaltet, wenn die Eltern in jener Stunde dem Rate des Rektors Bielefeld gefolgt wären? In vieler Hinsicht wäre zweifellos der Weg meines Lebens ebener und leichter geworden, und es gab wohl Augenblicke, in denen ich mit einem gewissen Bedauern diese verlorenen Möglichkeiten erwog. Aber diese Augenblicke waren doch nur sehr kurz. Nein - ich wäre dann wohl auch der Gefahr unterlegen, unbewußt zu lernen, nur mit den Augen der Lehrer zu sehen. So kam ich an die großen Fragen heran, ohne die Weisheit der jeweiligen »Meister« zu kennen, und als ich sie kennenlernte, hatte ich in Leben und Arbeit mir schon ein eigenes Urteil erkämpft. Wer weiß, ob ich auf gewohnter Bahn Kraft und Mut gewonnen hätte, gegen fast alle Autoritäten des wissenschaftlichen und des öffentlichen Lebens den Gedanken der Bodenreform hochzuhalten und ihm die Bahn zu brechen.
Und so war es denn gut, daß ich von dieser Schule mit ihrem trefflichen, wohlmeinenden Rektor abgemeldet wurde.
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Als »Kamerad«
Ich kam in die 58. Gemeindeschule. Sie lag draußen vor dem Königstor in der Heinersdorfer Straße, die in jener Zeit noch fast völlig unbebaut war. Auch hier war ich bald der Erste in der ersten Klasse. Wenn trotzdem für mich nichts geschah, so lag das einmal daran, daß der Rektor nach kurzer Frist wechselte und der Klassenlehrer M., ein sehr begabter Lehrer, durch häusliches Mißgeschick in seinen Gedanken von allen Schulfragen außerordentlich abgelenkt wurde. Er verlor in jener Zeit seine gesamten Ersparnisse, weil er die Bürgschaft für einen Verwandten übernommen hatte, der Untreue beging. Er warf mir einmal vor: »Wir könnten viel mehr für dich tun, wenn du dich bloß von den anderen Jungen fernhalten wolltest; du gehörst doch nicht zu ihnen!« Das widersprach aber meiner gesamten Auffassung. Ich war ein durchaus »soziales Wesen« und war bewußt jedem ein guter Kamerad, und mein Aufpasseramt, das ich als Klassenerster auszuüben hatte, wurde so verwaltet, daß eben die äußere Ordnung gerade noch gewahrt blieb. Allerdings traf es mich doch ziemlich vernichtend, als nach einer kurzen Krankheit der Lehrer mein Fehlen so auslegte: »Ah, deshalb war es in den letzten beiden Tagen so still in der Klasse, - weil du nicht aufgepaßt hast!«
In den Kämpfen der Schuljugend blieb ich trotz aller Mahnungen der Lehrer nicht »neutral«. Meine Zugehörigkeit in den Kämpfen zu dieser oder jener Partei wurde »natürlich« durch die Lage der Wohnung bestimmt. Als wir in der Prenzlauer Chaussee wohnten, zählte ich eben zu den »Prenzlauern«, die mit den Bewohnern der Königschaussee und der Pappelallee in ständiger Fehde lagen. Die besten Freunde schieden sich nach dem Zufall des Wohnortes. Wir »Prenzlauer« sahen auf die »Pappelianer« und auf die »Königlichen« mit einer Verachtung herab, die deshalb nicht geringer war, weil sie jedes sachlichen Grundes entbehrte. Die Kämpfe wurden oft organisiert ausgefochten, namentlich im Winter. Als ich dreizehn Jahre alt war, hatte ich nicht mehr viel Freude daran und zog mich möglichst zurück. Aber ich sehe noch einen Mittag vor mir, als in einer großen Schneeballschlacht die Prenzlauer durch ganze Straßen zurückweichen mußten. Ich kam zufällig hinzu und hörte bald ihr Geschrei: »Führe uns!« Da erwachte der Ehrgeiz des echten »Prenzlauers«, und wir warfen die Gegner bald aus unserem heiligen Bezirk heraus. Dann aber ging ich. An dem »Eroberungskrieg«, der die Gegner später noch über die Hälfte der Heinersdorfer Straße warf, beteiligte ich mich grundsätzlich nicht mehr.
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Prämien und Strafen
In jener Zeit wurden noch Prämien verteilt. Ich besitze als solche noch Körners Werke und die Deutsche Geschichte von Eduard Duller. Ist eine Prämienverteilung in der Schule richtig oder nicht? Soll sie der begabteste Schüler bekommen oder der fleißigste? Als mir später zum Bewußtsein kam, wie sehr die Leistung abhängig ist von der Not des Hauses, habe ich bald die Unmöglichkeit erkannt, die wirklich Würdigen in einer Klasse herauszusuchen, d. h. die, welche im Verhältnis zu den häuslichen Schwierigkeiten das Beste leisten.
In der 58. Gemeindeschule, in der - zumal in den letzten Jahren - nicht die feste Organisation herrschte wie etwa in der 8. Gemeindeschule, wurde der Stock von einzelnen Lehrern viel angewandt, namentlich
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