Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs
die Folie von den Wänden.
Für heute ist er fertig.
In den sechs Jahren, die Justo Thomas im Le Bernardin arbeitet, und in den zwanzig Jahren, die er insgesamt in New Yorker Restaurants gearbeitet hat, hat er - wie die große Mehrheit der Leute, die unser Essen zubereiten - noch nie in dem Restaurant gegessen, für das er den Fisch vorbereitet.
Es ist eine der Ironien der gehobenen Gastronomie, dass es sich die Köche im Gegensatz zu den Kellnern, die das Essen servieren, nur sehr selten leisten können, die Gerichte zu essen, deren Zubereitung sie solche Mühe kostet. Sie wären im Restaurant ohnehin nicht gern gesehen. Sie haben nicht die richtige Garderobe. Viele, wenn nicht sogar die meisten teuren Restaurants verbieten ihren Angestellten, dort als Gast zu essen - egal, wann. Das hat sowohl praktische
als auch, wie man vermuten könnte, ästhetische Gründe. Man will keine Gruppe lauter, schlecht gekleideter Köche im Restaurant haben, die lachen und in allzu vertrauter Weise mit dem Barkeeper plaudern. Könnte die gehobene Atmosphäre stören - und die romantische Illusion zunichtemachen. Außerdem bestünde die Versuchung, den Leuten, mit denen man jeden Tag zusammenarbeitet, ein paar Sachen gratis zukommen zu lassen. Aus der Sicht eines Restaurantleiters oder -besitzers ist es daher nicht gut, wenn die eigenen Angestellten Gast im Restaurant sind. Lässt man erst einmal zu, dass die Angestellten am Arbeitsplatz Alkohol trinken - selbst an ihrem freien Tag -, nimmt das Unheil seinen Lauf. Das kann nicht gut gehen.
Die Regeln im Le Bernardin spiegeln die branchenübliche Praxis wider.
Aber ich wusste, dass ich beim Chef einen Stein im Brett hatte, und bat ihn, eine Ausnahme zu machen.
Ein paar Tage später führe ich Justo Thomas zum Mittagessen in sein Restaurant aus.
Er kommt direkt von der Arbeit, hat sich dort umgezogen und trägt jetzt einen dunklen, gut geschnittenen Anzug und eine Brille mit schwarzem Designergestell. Er hat das Restaurant durch den Lieferanteneingang verlassen und betritt es jetzt wieder durch den Vordereingang. Ich brauche einen Moment, bis ich ihn erkenne.
Er ist nervös, aber gefasst - und sehr glücklich. Er ist für den Anlass passend gekleidet, seine Haltung und sein Gang verraten jedoch, dass er sich hier nicht zu Hause fühlt. Seine Kollegen in der Küche seien ganz aufgeregt, erzählt er, und können immer noch kaum glauben, was hier passiert. Auch
die Kellner freuen sich mit ihm - allerdings versuchen sie, ihr Lächeln so gut wie möglich zu verbergen. Von Anfang an wird Justo wie ein ganz normaler Gast behandelt, mit der üblichen Ehrerbietung - er wird an den Tisch geführt, der Stuhl wird für ihn herangezogen, er wird gefragt, ob er à la carte bestellen will oder ob die Küche ein Menü für ihn zusammenstellen soll. Als der Wein kommt, richtet die Sommelière ihre Erklärungen an ihn.
Ein Schälchen mit Lachsrillettes wird zusammen mit getoastetem Brot an unseren Tisch gebracht. Dazu gibt es Champagner.
Wenn Justo essen geht, dann zusammen mit seiner Familie. Sie gehen in ein Lokal, wo es Grillhähnchen gibt, bei einem besonderen Anlass essen sie in einem spanischen Restaurant Steak und Hummer.
Bei solchen Gelegenheiten trinkt er nichts. Keinen Tropfen.
»Ich bin immer der Fahrer«, sagt er.
Obwohl Justo der mittlere Bruder ist, hat er sich aufgrund seines Charakters und seiner guten Stellung in New York zu einer Art Patriarch entwickelt. Er hat ein Haus in der Dominikanischen Republik. Der obere Stock ist für die Familie, der untere Stock und ein Anbau werden vermietet. Seine Geschwister wenden sich an ihn, wenn sie in wichtigen Angelegenheiten einen Rat brauchen. Sein Vater, erzählt er, habe ihm beigebracht, dafür zu sorgen, »dass sich die Familie nie fürchtet, solange man lebt«.
Er ist für die anderen ein Vorbild - und er nimmt seine Verantwortung sehr ernst.
»Zuerst die Familie. Dann die Arbeit«, sagt er.
Ich bin ungeheuer erleichtert, als er den ersten Schluck Champagner nimmt und mir dann sagt, er würde gerne die korrespondierenden Weine zum Menü probieren. Die Küche hat darauf bestanden, für den Sohn des Hauses ein Degustationsmenü zuzubereiten - und unter diesen Bedingungen muss man einfach Wein trinken. Ich habe mir ein bisschen Sorgen gemacht, denn Justo erzählte mir, seine Vorstellung von einem richtig verrückten Urlaub (wenn er nicht gerade an seinem Haus arbeite) sei die, mit seiner Familie an den Strand zu fahren, Pizza für
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