Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs
mehr Geld ausgeben, als er verdient - obwohl er vergleichsweise gut bezahlt wird. Wie findet er das?
»Ich denke, dass im Leben manche Leute zu viel bekommen und alle anderen nichts«, sagt er und zuckt verbittert die Schultern. »Ohne Arbeit wären wir nichts.«
Wir lassen uns Zeit und genießen Pot de crème aus Schokolade, Mascarponecreme und Pistazienmousse.
Der viele Wein ist Justo nicht anzumerken. Er bestellt einen Espresso, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und wirkt sehr zufrieden.
»Ich habe einen guten Job. Eine gute Familie. Ich lebe in Frieden.«
Die Sache mit dem Fisch am Montag
A ls ich Geständnisse eines Küchenchefs schrieb, meistens am frühen Morgen, war ich furchtbar mies drauf. Ich schlug mehr oder weniger blindlings um mich, und dass mein »Arbeitstag« am Schreibtisch morgens um halb sechs oder sechs Uhr begann, half da nicht gerade weiter. Hastig hämmerte ich Sätze, Erinnerungen und mühsam rekonstruierte Ereignisse der letzten Nacht in die Tasten (der eine Zehn-, Zwölf- oder Vierzehnstundenschicht in der Küche vorausging, gefolgt von exzessiven Trinkgelagen, nach denen ich praktisch bewusstlos ins Bett taumelte). Ich kotzte mich so richtig aus und tippte die Wörter, wie sie mir in den Sinn kamen - kein Herumfeilen an den Sätzen, dafür hatte ich sowieso keine Zeit -, bevor es wieder in die Küche ging: Saucen aufsetzen, Fleisch schneiden, Fisch portionieren, Pfeffer mahlen, das Mittagsgeschäft und so weiter. Um halb vier nachmittags zwei schnelle Bier um die Ecke, dann zurück ins Les Halles, entweder arbeitete ich an meinem Posten, oder ich annoncierte die Bestellungen, dann in die Siberia Bar - oder ich setzte mich einfach mit dem Service zusammen, und
wir besoffen uns en place . Zusammengesunken auf der Rückbank eines gelben Chevy Caprice, die Beine unbequem hinter der kugelsicheren Abtrennung verstaut - so war ich am kreativsten, dort überlegte ich, was ich am nächsten Tag schreiben sollte. Hinter der zerkratzten Trennscheibe dachte ich mit jeder Menge Promille im Blut über mein Leben nach, während New York City an mir vorbeizog.
Da ich damals in Morningside Heights an der Upper West Side wohnte, hatte mein Taxi, bis wir meine Wohnung erreichten, fast alle Stellen passiert, die in meinem Leben eine wichtige Rolle gespielt hatten, »All My Sorrows, All My Joys«, wie es in dem Song heißt. Ein dicht gepacktes Schachbrettmuster aus Fehlern, Versäumnissen, Verbrechen und Vertrauensbrüchen, im Großen wie im Kleinen. Gelegentlich kamen mir auch glückliche Momente in den Sinn, dann lächelte ich müde - bevor mir wieder einfiel, wie manche Sachen völlig in die Hose gegangen waren, schlecht gelaufen waren oder einfach … auf das hier hinausliefen. Ich war fast froh, die Stelle am Broadway zu sehen, wo meine damalige Frau und ich früher unsere Bücher und Schallplatten zum Verkauf angeboten hatten - zumindest das hatte ich nicht mehr nötig. Außerdem mussten wir nicht mehr jeden Cent umdrehen. Aber ich war immer noch wütend - ich nehme an, ähnlich wie ein Mob wütend wird: wütend auf all die Dinge, die ich nicht hatte und (wie ich überzeugt war) nie haben würde.
Ich war nie krankenversichert. Meine damalige Frau auch nicht. Und das machte mir eine Scheißangst - denn wir konnten es uns nicht leisten, krank zu werden, andererseits stieg die Wahrscheinlichkeit mit zunehmendem Alter. Plötzliche
Zahnschmerzen konnten ein riesiges Loch in unsere Finanzen reißen. Eine Wurzelbehandlung würde uns das Genick brechen. Wir müssten zu Kreuze kriechen. Den netten Zahnarzt in der schmuddeligen Praxis, die sich im Erdgeschoss eines Blocks mit Sozialwohnungen befand, anflehen, Ratenzahlungen zu akzeptieren.
Werbespots für Autos machten mich wütend, weil ich nie ein Auto besessen hatte - nicht einmal einen Roller - und, auch da war ich mir sicher, nie eins besitzen würde. Die Vorstellung, ein eigenes Haus zu haben, war geradezu lächerlich. Ich lag mit der Miete so weit im Rückstand und hatte so hohe ausstehende Zahlungen beim Finanzamt, dass ich, wenn ich einmal nüchtern ins Bett ging, schweißgebadet dalag und mir das Blut in den Ohren pochte, während ich verzweifelt versuchte, nicht an das Undenkbare zu denken: dass der Vermieter oder das Finanzamt oder die lange ignorierten, aber trotzdem sehr realen Mitarbeiter von American Express mir alles, wirklich alles wegnehmen konnten. Dass dieses »alles« gerade einmal vierzehn Dollar, an einem guten Tag vielleicht
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