Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs
lässigen Küche des Momofuku und L’Atelier, aber auch mit anderen, geheimnisvolleren Kräften, die schon lange unterschwellig geköchelt hatten und nun mit Macht an die Oberfläche blubberten. Kluge Köpfe erkannten diese Verschiebungen als Chancen.
Viele Restaurants machten dicht. Und wie immer wurden viele andere an ihrer Stelle eröffnet. Branchenvertreter spielen mit dem Hinweis auf diese Gesamtzahlen herunter, wie heftig das alles eigentlich war. Die Frage ist doch: Wer wird überleben? Wer wird heute in einem Jahr noch da sein? Oder in zwei?
Auf dem Höhepunkt der Krise, als allenthalben das Ende des Überflusses vorhergesagt wurde, eröffneten Chris Cannon und Michael White tapfer das überaus opulente Marea am Central Park South. Sicher, das Restaurant ist ultraschick. Das Essen, für das ungerührt mit vier Sternen geworben wird (die es auch verdient), ist teuer. Aber interessant ist die Weinkarte. Die Weine sind billig. Oder sagen wir, die Karte konzentriert sich ungewöhnlich stark auf weniger bekannte Boutique-Weine in niedriger Preislage und Kultweine aus Italien. Für das Essen bezahlt man im Marea viel Geld, aber interessanterweise wird man mit dem Wein nicht abgezogen. Man wird sogar freundlich zu einer vernünftigen Wahl animiert.
Da die Preise für die Zutaten weiter gestiegen und auch die Gäste zunehmend unter Druck geraten sind, sitzen die Küchenchefs in der Zwickmühle. Sogar traditionelle Pflichtgerichte wie Lachs oder Lende wurden so teuer, dass kaum mehr etwas damit zu verdienen war. Und die Gäste wollten immer noch nachhaltige Bioprodukte, die aber gleichzeitig erschwinglich sein sollten.
David Chang sagte in einem Beitrag für den Esquire voraus, dass die Entwicklung künftig zu einem neuen Verhältnis zwischen Protein und Gemüse oder Kohlenhydraten gehen müsse, das eher dem asiatischen Modell folgt. Man werde sich weniger hochwertigen Stücken wie Hals, Schulter und Keule zuwenden und überhaupt weniger Fleisch auf den Teller bringen. Es wäre, so Chang, durchaus sinnvoll, wenn Fleisch und Knochen nicht mehr im Mittelpunkt stünden, sondern eher als Geschmacksträger eingesetzt würden, denn es wäre kostengünstiger und würde die Küchenchefs dazu zwingen, kreativer zu sein, statt mit Fülle und Masse Eindruck zu schinden. Und eine Bevölkerung, die zunehmend Gefahr läuft, krankhaft fettleibig zu werden, würde ebenfalls davon profitieren.
Harte Zeiten, so ließe sich daraus ableiten, könnten uns zu einem Bewusstseinswandel veranlassen, den wir schon angepeilt, aber irgendwie nie richtig vollzogen haben.
Wenn man den Gürtel enger schnallen muss, sind wohl schlechte Zeiten angebrochen. Aber man ist schlanker geworden.
Zum Glück liebäugeln viele Küchenchefs schon seit Jahrzehnten mit dieser Entwicklung. Sie haben noch nie gern Lachs, Heilbutt oder Red Snapper zubereitet, weil ihnen das
zu langweilig ist. Sie bevorzugten schon immer kleinere, fettere Fische mit mehr Gräten, nicht weil sie billiger sind, sondern weil sie besser schmecken. Nun schien die Zeit womöglich gekommen. Denn jeder Küchenchef, der einen Gastronomen dazu bringen wollte, Makrele oder - Gott behüte! - Blaubarsch auf die Karte zu setzen, hatte nun ein verlockendes, ja, unanfechtbares Argument: Lachs können wir uns einfach nicht mehr leisten. Wenn das kein Hoffnungsschimmer war!
Wenn je eine Zeit nach Rinderschmorbraten, Rumpsteak oder Bauchsteak geschrien hatte, dann diese.
Und es geschah noch etwas anderes. Als die jungen Investmentbanker vom Bankett ins Arbeitsamt marschierten, wurden sie von einer völlig neuen Sorte Restaurantgäste ersetzt. Jonathan Gold, der immer mit allem recht hat (sehen wir einmal von den Vorzügen der Hotdogvariante Oki Dog ab), schrieb in einem Jahresrückblick 2009 in der Los Angeles Times , in der Region Los Angeles seien »im vergangenen Jahr mehr Spitzenrestaurants eröffnet worden als in den fünf Jahren zuvor«. Allerdings habe sich etwas »wirklich Neues ereignet, das unsere Vorstellung vom Restaurant fundamental verändern könnte « (meine Hervorhebung).
»Völlig unbemerkt, still und leise hat das Essen in der Jugendkultur den Platz eingenommen, den früher der Rock’n’ Roll inne hatte - individuell, grell und sehr politisch.« Er verweist auf mobile Unternehmen wie den rollenden Kogi BBQ, der seinen jeweiligen Standort über Twitter bekannt gibt, »Pop-up-Restaurants« und die Beliebtheit von ethnischen, »authentischen« oder »extremen« Läden.
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