Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs
Pranger gestellt werden, dass sie in Ihrem Restaurant essen, ist das nicht gerade förderlich fürs Geschäft. Ein Unternehmen, das für seine Aktionäre keine Gewinne erwirtschaftete, sich aber teure Freizeitvergnügungen leistete, geriet schnell ins Schussfeld - zumal wenn es Trüffeldiners bei Daniel abhielt. Konzernchefs, die geschmäht wurden, weil sie einen Privatjet flogen, und vor Kongressausschüssen für ihr Ausgabegebaren und die obszöne Höhe ihrer Boni in die Mangel genommen wurden, wollten nicht auch noch im Masa ertappt werden.
Panik brach aus.
Von einem Moment auf den anderen kehrten sich bornierte Standpunkte und Verhaltensweisen, die noch gestern geradezu zementiert schienen, völlig um.
Wo man auch hinging, waren die Leute plötzlich untypisch - höflich.
Die Samtseilabsperrungen verschwanden.
Empfangsdamen, deren ausdruckslos starrender Modelblick einen noch in der Woche zuvor nicht wahrgenommen
hatte, empfingen einen plötzlich so herzlich wie die geliebte Großmutter, fast schon schmerzhaft zuvorkommend, stets darauf bedacht, den Gast zufriedenzustellen. Telefone, die früher ewig klingelten, wurden jetzt beim ersten Ton abgenommen. Eine Höflichkeit, die an Verzweiflung grenzte, trat an die Stelle der gewissenhaft einstudierten Verachtung. Man bekam einen Tisch in Restaurants, in denen es nie einen gegeben hatte.
Sogar unangemeldete Gäste wurden zuvorkommend behandelt, in der Hoffnung, dass sich die Freundlichkeit später auszahlen würde.
»Es tut mir so leid, dass wir Ihnen heute keinen Platz anbieten können. Aber wie wäre es nächsten Dienstag?«, hieß es jetzt anstelle einer barschen Abfuhr.
Küchenchefs, die nicht einmal in die Nähe ihres Speisesaals, geschweige denn ihrer Küche gekommen waren, kehrten plötzlich zurück - und verlegten sich sogar demonstrativ aufs Kochen.
Tom Colicchio bekam die Situation als einer der Ersten in den Griff. Er nutzte den unbestreitbaren Vorteil seiner Fernsehpräsenz und stellte ihn in den Dienst seines Restaurants. Im Craft rief er die »Tom Tuesdays« aus, an denen er höchstpersönlich und für alle sichtbar in der Küche stand und ein Spezialmenü kochte.
Angebote zum halben Preis, halbe Portionen und Gerichte à la carte tauchten in Restaurants auf, in denen sie vorher undenkbar gewesen wären. Bald konnte man im Cocktailbereich des Per Se einzelne Gerichte von der Speisekarte bestellen. Vorher hatte der Gast nur die Möglichkeit gehabt, das gesamte Degustationsmenü einzunehmen, und zwar im
Speisesaal. Die Preise sanken, und als Tagesgerichte wurden günstigere und weniger abgehobene Kreationen angeboten. Offerten wie »Zwei zum Preis von einem«, »Eine Flasche Wein gratis«, »Zum halben Preis« oder sogar »Abendessen für Frühaufsteher« setzten sich nach und nach auf den Speisekarten, Leuchtreklamen und Websites durch. Omas Klassiker wie Brathähnchen wurden einmal in der Woche zu nächtlichen Spezialdinnern gereicht, in Häusern, in denen man Hausmannskost normalerweise wohl als Letztes erwartet hätte.
Aber es war ja auch nichts mehr normal. Jeder wusste das.
Viele Gäste insbesondere der Spitzenrestaurants - Leute, die in Aktien und Wertpapiere investierten - hatten innerhalb weniger Tage bis zur Hälfte ihres Kapitals verloren. Man konnte sich wohl kaum darauf verlassen, dass ihre Bedürfnisse und ihr Verhalten unverändert bleiben würden. Natürlich konnte man darauf hoffen, dass es auch weiterhin eine Nische für eine Gastronomie geben würde, die sich an den Luxusmarkt richtet, an Leute also, die für beste Qualität Spitzenpreise zahlen. Die würde es immer geben. Doch in der Branche vermutete man, dass sie für das eine oder andere auch nicht mehr bereit waren, Geld auszugeben.
»Ich habe das Geld für die Fettuccine mit weißen Trüffeln«, mochten sie jetzt denken, »aber für den Blumenschmuck da drüben gebe ich keinen Cent aus!«
Die Lücke galt es zu füllen. Mit gewöhnlichen Gästen. Wir sind ab jetzt besser nett zu ihnen, dachte man sich. Pronto.
Wenn aus dieser Gesundschrumpfungsphase ein neues Credo überlebt hat, so dieses: Die Leute zahlen auch weiter
für Qualität, aber nicht mehr für Bullshit. Die neuen finanziellen Gegebenheiten, gepaart mit einem, wenn auch nicht besonders ausgeprägten, Bewusstsein dafür, dass es im Moment vielleicht nicht allzu cool aussah, wenn man unnötig mit Geld um sich warf, harmonierten hervorragend mit der durchaus nicht ganz neuen, aber beliebter werdenden eher
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