Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs
Noch vor dem Käsegang hat sich doch jeder Gedanke an sexuelle Betätigung aus dem Staub gemacht.
Das sind doch faire Kriterien, oder? Das Mindeste, was man von einem Essen verlangen kann - zumindest nach klassischen Standards.
Schaffen wir einen Präzedenzfall, betrachten wir Ferran Adriàs El Bulli in Spanien - mit den wahrscheinlich umfangreichsten und berühmtesten Degustationsmenüs. Nach dem Komplettprogramm - etwa fünf Stunden, die man nur mit Essen und Trinken verbringt - fühlte ich mich ziemlich gut. Ich blieb noch zwei Stunden und trank mehrere Gin Tonics - und danach wäre ich sexuell voll leistungsfähig gewesen und hätte mir nach dem Sex noch einen Snack einverleiben können.
Le Bernardin in New York bietet das »Chef’s Tasting Menu« an. Danach fühle ich mich immer gut. Beide Menüs sind in sich sehr stimmig. Laurent Gras’ L2O in Chicago und Andoni Aduriz’ Mugaritz in San Sebastián verfolgen ebenfalls einen vernünftigen Ansatz und kennen die Grenzen des menschlichen Appetits.
Ich erwähnte bereits Küchenchefs, die Degustationsmenüs fürchten.
Man denke nur an den Fluch des Ferran Adrià. Nicht Ferran Adrià, der Küchenchef, Restaurantbesitzer und kreative Künstler. Sondern Ferran Adrià, der Restaurantbesucher, der »Esser«, wie er sagt. Ferran Adrià, der Vielflieger. Der dazu verurteilt ist, auf dieser Erde zu wandeln und jedes Degustationsmenü zu ertragen, jedes verschrobene Projekt der »Molekularküche« (er selbst verwendet die Bezeichnung nicht mehr), die endlosen, gut gemeinten Darreichungen seiner Bewunderer in jeder Stadt der Welt und in jedem Land, das er bereist. Stellen Sie sich vor, Sie wären Ferran Adrià. Gourmet- und Weinfeste, Kochkongresse, Lesereisen, Symposien. Egal, wo er hingeht, er kann nicht entkommen: Entweder wird er in ein Lokal geschleppt, weil sein Betreuer vor Ort meint, dort koche eine verwandte Seele - oder er ist verpflichtet, wenn er in Melbourne oder Milwaukee ist, der großen Nummer in der lokalen Restaurantszene seine Reverenz zu erweisen, weil diese bekannt dafür ist, Adrià zu verehren. Er kann nicht heimlich, still und leise unterwegs sein. Er muss essen gehen.
Ein zwanzig- oder dreißiggängiges Degustationsmenü folgt dem anderen, immer wieder gibt es einen aufrichtigen, aber ungeschickten Nachahmer, der den zungeverätzenden
Flüssigstickstoff auffährt, die peinlichen Kopien der von Adrià schon lange verworfenen Espumas, das unbedarfte Nachäffen katalanischer Traditionen, die der Koch wahrscheinlich selbst noch nie erlebt hat.
Und dabei will der arme Kerl doch nur einen verdammten Burger.
Ferran Adrià geht in eine Bar … das klingt wie ein Witz. Aber ich vermute mal, dass es für ihn nicht mehr witzig ist. Weil Ferran Adrià nicht so einfach in eine Bar gehen kann - ohne dass sechs oder sieben Gratisprobierhäppchen aufgefahren werden, die er nie wollte. Er wollte doch nur einen Burger.
Thomas Keller kennt das sicher auch. Es heißt, wenn Keller essen gehen will, ruft ein Assistent vorher im Lokal an und weist das Restaurant ausdrücklich an, unter keinen Umständen irgendwelche Zusatzgänge zu servieren. Keine ungebetenen Amuse-Gueules. Keller will auf keinen Fall Ihre Interpretation seiner bekannten Kreation Oysters & Pearls (Austern mit Tapioka und Kaviar) sehen. Er will Ihren Hähnchenspieß essen - der sehr gut ist, sonst würde er nicht kommen -, also bitte, lassen Sie den Mann in Ruhe.
Jetzt denken Sie: Ach die armen Schätzchen, die Starköche, die exklusive Delikatessen in sich hineinstopfen müssen … die können mich mal! Aber stellen Sie sich das einmal vor, Tag für Tag, müde von den langen Flügen, ein Hotelbett nach dem anderen; übernächtigt und erschöpft wollen Sie etwas ganz Einfaches, etwas wie Mutterns Hackbraten oder ein schlichtes Brathähnchen - aber nein, stattdessen gibt es noch ein extravagantes dreistündiges Menü, normalerweise eine weniger gute Version dessen, was Sie
jeden Tag produzieren, um Ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie wären wie ein überarbeiteter Pornostar, dem die Leute, egal, wo Sie hingehen, ans Gemächt fassen und einen Quickie verlangen.
Aber zurück zu meiner Reaktion auf das Essen gestern Abend im Per Se. Ich lasse meine Gedanken schweifen, stöbere in meinem Gedächtnis nach den Details der großartigsten Mahlzeit meines Lebens, dem Menü in der French Laundry. Wir waren zu viert: ich, Eric Ripert, Scott Bryan und Michael Ruhlman. Zweiundzwanzig oder noch mehr
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