Ein bisschen blutig - Neue Gestaendnisse eines Kuechenchefs
Kreationen Kellers: ein Tapiokasabayon mit Austern und Kaviar. Die Kellner häuften am Tisch überaus großzügig Kaviar auf. Wenn es möglich ist, auf ein Gericht
zu viel Kaviar zu geben, dann war das bei uns der Fall. Es wirkte ein wenig … respektlos, das alte Mädchen so aufzutakeln. Ich muss zugeben, dass mir die Tränen kamen, als der Teller vor mich hingestellt wurde. Schon in dem Moment, relativ früh während des Essens, hatte ich das unerklärliche Gefühl, dass ich die Oysters & Pearls nie wiedersehen würde. Da hatten wir einen echten amerikanischen Klassiker - und einen persönlichen Favoriten, für den ich wirklich sentimentale Gefühle hege. Ich hatte das Gefühl, dass wir eine gemeinsame Geschichte hatten - im Grunde also Emotionen, die man als Koch bei seinen Gästen wecken möchte. Doch ich war bestürzt über die verschwenderisch große Portion Kaviar. Als ob man beim Per Se dächte: »Wir trauen dem alten Mädchen nicht mehr so viel zu, wir müssen ein bisschen mehr Lippenstift auftragen.« Und das kränkte mich - um ihretwillen.
Das Sashimi aus tagesfrischen Kammmuscheln mit Blumenkohlröschen, Karotten und Erbsensprossen war tadellos und einwandfrei - aber so etwas macht heutzutage jeder.
Der marinierte Kalmar aus dem Atlantik mit Kürbisblütentempura und einem Kürbisblütenpesto war aufregend und neu - und schon hatte ich wieder Freude am Leben.
Der nächste Gang, ein Flan mit einer Infusion aus Öl vom weißen Trüffel in Begleitung eines »Ragouts« aus schwarzen Wintertrüffeln hatte wirklich Potenzial, eine schöne Abwandlung eines alten Favoriten aus Kellers Kochbuch, und voll fröhlichem Überschwang anstelle der Unsicherheit, die ich bei den Oysters & Pearls gespürt hatte. Ein üppiges winterliches Gericht, das seinen Geschmack mit einem Paukenschlag freigibt, ohne sich zu entschuldigen. Das Ei im Glas
meiner Frau mit Beurre noisette und getoasteter Brioche war sogar noch besser, zu üppig, zu gut und zu viel - im bestmöglichen Sinn.
Doch erst der nächste Gang - hausgemachte »Mortadella« mit Rübengrün, violetten Artischocken und Senf für mich, Coppa di testa aus Guanciale (italienischem Speck aus der Schweinebacke oder dem Schweinenacken) mit Gurke und einer Sauce ravigote für meine Frau - brachte das erste wirklich mitreißende Geschmackserlebnis. Hier hatten wir es mit verfeinerten, aber immer noch relativ puristischen Versionen der ländlichen Küche Italiens zu tun, mit einem kräftigen und forschen Geschmack. Zum ersten Mal schmeckte ich richtig Salz. Ich hoffte, dass die restliche Mahlzeit Ähnliches bieten würde. Das war richtig gut, dachte ich. Das war … großartig.
Doch ich wurde jäh wieder in die Realität zurückbefördert, als rauchgefüllte Glasglocken an unseren Tisch gebracht wurden. Eine ansonsten wunderbare gepökelte Kalbszunge unter der einen, ein Stück Schweinebauch unter der anderen Haube, ruiniert durch völlig unnötigen Firlefanz. In der Küche hatten sie diese kleinen Räucherpfeifen benutzt, von denen heutzutage anscheinend kein Koch mehr die Finger lassen kann. Der Rauch wird unter die eigens angefertigten, mundgeblasenen Glasglocken geblasen, aber die Mühe hätte man sich sparen können. Die Kalbszunge schaffte es, den Rauch mit nur leichten Geschmackseinbußen abzuschütteln - aber der Schweinebauch war ruiniert. Eine derart überflüssige Effekthascherei ärgert mich.
Dann gab es Sorbet. Danach Wachtel. Long-Island-Wolfsbarsch. Ich hatte eine Variation des legendären in Butter
gedünsteten Hummers, meine Frau aß Taschenkrebse. Alles gut und auch schön anzuschauen.
Als Pastagang gab es Tagliatelle beziehungsweise Spinatrigatoni, von unserem Kellner völlig mit Trüffeln überhäuft. Wieder wollte ich sagen: »Was machen Sie da, verdammt noch mal? Das ist zu viel!« Aber ich saß schweigend da, während der köstliche Geschmack meiner Pasta unter einer Decke stark aromatischer Pilze begraben wurde. Wieder fühlte ich mich gekränkt - dieses Mal persönlich - wie eine Stripperin, der man besoffen zu viel Geld in der irrigen Annahme zusteckt, sie würde einen dann mögen.
Dann gab es ein tadelloses und einwandfreies Stück Kalbfleisch aus der Region und danach einen überaus willkommenen und aufregenden Schock.
Ein großer, für Keller völlig untypischer einzelner Teller (nicht die gefährlich übereinander gestapelten vier Etagen), bedeckt mit Tomatenscheiben (von alten Tomatensorten), in deren Mitte ein erstaunlich cremiger
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