Ein Blatt Liebe
letzten Tage hatte es das Kind nicht wahrhaben wollen,
daß die abendliche Feier sie angriffe. Aber ihre Wangen hatten eine
wachsbleiche Farbe angenommen, und der Doktor gab den Rat, das Kind
weite Spaziergänge machen zu lassen.
»Setze dich dahin,« sagte die Mutter. »Du
sollst dich ausruhen. Wir wollen nur zehn Minuten bleiben.«
Helene hatte Jeanne neben eine Säule gesetzt. Sie selbst kniete
ein paar Stühle entfernt nieder. Arbeiter nahmen im Kirchenschiff
die Vorhänge ab und entfernten die Blumentöpfe. Der Rausch des
Marienmonats war zu Ende.
Helene, das Gesicht in die Hände vergraben, sah und hörte
nichts. Sie fragte sich angsterfüllt, ob sie die schreckliche
Krise, welche sie durchlebte, dem Abbé Jouve beichten solle. Er
allein würde ihr raten, würde ihr die verlorene Ruhe wiedergeben.
Aber im Grunde ihres Herzens entstieg ihrer Seelenangst
überschäumende Freude. Sie hätschelte ihr Weh und zitterte davor,
daß der Priester ihr vielleicht keine Heilung schaffen möchte.
Die zehn Minuten verstrichen, eine Stunde verging. Helene
versank im Kampf ihres Herzens.
Und als sie endlich mit in Tränen schwimmenden Augen den Kopf
hob, erblickte sie neben sich den Abbé Jouve, der sie mit
bekümmerter Miene betrachtete.
»Was fehlt Ihnen, mein Kind?« fragte er Helene, die sich rasch
aufrichtete und die Tränen wischte.
Sie fand nicht gleich eine Antwort; fürchtete, wieder
schluchzend in die Knie zu sinken. Der Priester trat näher.
»Ich mag nicht in Sie dringen. Warum vertrauen Sie sich nicht
dem Priester, nicht mehr dem Freunde an?«
»Später … später … ich verspreche es Ihnen,« stammelte
Helene.
Unterdes hatte Jeanne artig gewartet und sich die Zeit mit der
Betrachtung der Glasfenster, der Heiligenstatuen am Haupteingang,
und Kreuzstationen, den Szenen aus dem Kreuzigungswege vertrieben,
die in kleinen Reliefs an den
Seitenschiffen angebracht waren. Allmählich hatte sich die Kühle
der Kirche auf das Kind wie ein Schweißtuch gelegt. Müdigkeit, die
sie am Denken hinderte, überkam Jeanne in der frommen Stille der
Kapellen. Der Widerhall der geringsten Geräusche an dieser heiligen
Stätte, wo sie ans Sterben denken mußte, schuf ihr Mißbehagen. Ihr
hauptsächlicher Kummer war, daß die Blumen entfernt Wurden. Die
großen Rosensträucher verschwanden, der Altar wurde kahl und kalt.
Dieser Marmor ohne Kerze und Weihrauchwolke ließ sie frösteln.
Einen Augenblick lang schwankte die spitzenbekleidete Jungfrau,
dann sank sie rücklings in die Arme der beiden Arbeiter. Da schrie
Jeanne auf. Ihre Arme breiteten sich aus und wurden steif, der
Anfall, schon seit Tagen im Anzuge, war da.
Und als Helene, außer sich, mit Hilfe des untröstlichen
Priesters, sie in einer Droschke fortschaffen konnte, wandte sie
sich mit ausgestreckten, bebenden Händen dem Portale zu.
»Diese Kirche ist schuld! Die Kirche ist schuld!« rief sie mit
einer Heftigkeit, aus der doch Bedauern und Bitterkeit über den
frommen Zärtlichkeitsmonat herausklang, der ihr dort zuteil
geworden war.
Kapitel 10
Am Abend ging es Jeanne besser. Sie konnte aufstehen, und um die
Mutter zu beruhigen, schleppte sie sich ins Eßzimmer, wo sie sich
vor ihre leere Schüssel setzte.
»Es wird nichts sein,« tröstete sie und versuchte ein Lächeln.
»Du weißt ja, daß ich nicht tapfer bin … Iß du doch, Mama!
Bitte, iß!«
Und als sie sah, daß ihre Mutter blaß wurde und fröstelte, nicht
imstande, einen Bissen herunter zu würgen, täuschte sie selbst
Appetit vor. Sie möchte ein bißchen Backwerk essen, beteuerte sie.
Da nahm sich Helene zusammen und aß. Das Kind schaute sie ständig
lächelnd mit nervösem Kopfschütteln bewundernd an. Beim Nachtisch
wenigstens wollte Jeanne ihr Versprechen halten, aber ihre Augen
füllten sich mit Tränen.
»Es geht nicht, du siehst's doch,« sagte sie matt, »du darfst
mich nicht schelten … «
Jeanne verspürte bleierne Müdigkeit. Ihre Beine erschienen ihr
wie tot, und eine Eisenfaust preßte ihr die Schultern zusammen.
Aber sie stellte sich tapfer und unterdrückte ihre Schmerzen.
Im Halse rissen die Schmerzen, und der Kopf wurde ihr schwer.
Und als Helene das Töchterchen so mager, schwach und doch so tapfer
sah, war sie nicht mehr imstande, die Birnen zu essen, die sie sich
hatte aufnötigen lassen. Schluchzen würgte sie. Sie ließ ihre
Serviette fallen und schloß Jeanne in die Arme.
»Mein Kind, mein Kind!« stammelte Helene.
Das Herz wollte ihr brechen in diesem
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