Ein Blatt Liebe
Eßzimmer, wo die Kleine sie
so oft mit ihrem Leckermäulchen erheitert hatte.
Jeanne versuchte wieder ihr Lächeln.
»Quäle dich nicht! Es wird nichts sein. Jetzt kannst du mich
wieder zu Bett bringen. Ich wollte dich am Tisch sehen, weil ich
dich kenne – du hättest sonst gar nichts gegessen.«
Helene trug sie fort. Sie hatte das Bettchen neben das ihrige in
die Kammer gerollt. Als Jeanne sich ausgestreckt und bis ans Kinn
zugedeckt hatte, fühlte sie sich weit besser und klagte nur noch
über dumpfen Schmerz im Hinterkopf. Dann wurde sie zärtlich. Seit
sie litt, schien ihre leidenschaftliche Liebe zu wachsen. Helene
mußte sie umarmen, mußte geloben, sie recht zu lieben, und ihr
versprechen, sie noch einmal in den Arm zu nehmen, wenn sie sich zu
Bett legen würde.
»Wenn ich auch schlafe,« versicherte Jeanne, »ich fühle dich
trotzdem.«
Sie schloß die Augen und schlummerte ein. Helene blieb bei ihr.
Als Rosalie auf den Fußspitzen kam und fragte, ob sie zu Bett gehen
dürfe, antwortete sie nur mit einem Nicken.
Es schlug elf, als Helene ein leises Klopfen an der Flurtür zu
hören meinte. Sie nahm die Lampe und ging verwundert auf den
Korridor.
»Wer ist da?«
»Ich! Öffnen Sie!« kam eine gedämpfte Stimme.
Es war Henri. Helene öffnete arglos. Ohne Zweifel hatte der
Doktor von Jeannes neuerlichem Anfall gehört und kam nun selbst,
wenn ihn auch Helene nicht hatte rufen lassen. Aber Henri ließ ihr
nicht Zeit zum Reden. Er war ihr zitternd
mit gerötetem Antlitz in die Eßstube gefolgt.
»Bitte, verzeihen Sie mir!« stammelte der Arzt, ihre Hand
fassend. »Drei Tage lang habe ich Sie nicht gesehen. ich konnte es
nicht länger aushalten.«
Helene hatte ihre Hand frei gemacht. Sie hatte ihn mit
schweigender Strenge angehört, die ihn quälte.
»Oh! weshalb spielen wir diese schreckliche Komödie?« rief
Henri, »ich kann nicht mehr; mein Herz droht zu zerspringen. Ich
werde noch eine neue Tollheit begehen. Ich möchte Sie umfassen, vor
aller Augen entführen.«
In magischem Zwang streckte er die Arme nach ihr aus.
Er hatte sich wieder genähert, er küßte ihr Gewand … seine
fieberheißen Hände irrten umher. Sie blieb kalt und starr wie ein
Marmorbild.
»Also wissen Sie noch nichts?« fragte Helene.
Und da er ihr Handgelenk gefaßt hatte und es mit Küssen
bedeckte, wehrte sie endlich voll Ungeduld ab.
»Lassen Sie mich doch endlich! Sie sehen ja, daß ich Sie nicht
einmal anhöre. Denke ich wohl an solche Dinge!«
Helene beruhigte sich und fragte noch einmal:
»Sie wissen also nichts? … Nun, meine Tochter ist
krank … ich freue mich, daß Sie gekommen sind … Sie
können mich beruhigen … «
Die Lampe fassend ging sie voran. Auf der Schwelle wandte sie
sich um und sagte hart:
»Ich verbiete Ihnen, hier noch einmal anzufangen … Niemals!
Niemals!«
Ihre hellen Augen glitzerten.
Deberle trat hinter ihr ein und faßte noch immer nicht, was sie
ihm sagte. In diesem Zimmer, zur gleichen Nachtstunde,inmitten der verstreuten Linnen- und Kleidungsstücke
atmete er wieder jenen Verbenenduft, der ihn am ersten Abend
verwirrt; als er Helene mit losem Haar und von den Schultern
geglittenem Schal gesehen hatte. Wieder hier zu sein und
niederzuknien, all diesen Liebesduft einzuschlürfen, den Tag in
Anbetung zu erwarten und sich zu Vergessen… ein Traum! Seine
Schläfen pochten, er stützte sich auf die eiserne Bettstatt des
Kindes.
»Sie ist eingeschlafen,« sagte Helene leise. »Sehen Sie das Kind
an!«
Er hörte sie nicht, die Leidenschaft wollte nicht zum Schweigen
kommen. Sie hatte sich über das schlafende Kind gebeugt, und er
hatte ihren goldenen Nacken mit den sich kräuselnden feinen Haaren
gesehen. Er schloß die Augen, um nicht dem Zwange zu unterliegen,
einen Kuß darauf zu drücken.
»Doktor, sehen Sie doch, die Kleine glüht… Es hat nichts auf
sich? Sprechen Sie doch!«
In dem tollen Verlangen, das ihm das Hirn zerhämmerte, fühlte er
berufsmäßig mechanisch nach dem Puls des Kindes. Aber der Kampf in
seinem Innern war zu stark. Er verweilte einen Augenblick reglos,
ohne zu wissen, daß er die arme kleine Hand in der seinigen
hielt.
»Sagen Sie, Doktor, hat sie starkes Fieber?«
»Starkes Fieber?« echote er geistesabwesend.
Die kleine Hand brannte in der seinigen. Wieder Stillschweigen.
Endlich erwachte der Arzt in ihm. Er zählte die Pulsschläge. In
seinen Augen erlosch eine Flamme. Sein Gesicht überzog sich mit
fahler Blässe, und er bückte sich
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