Ein bretonisches Erbe
ab, welches daran hing, und zog stattdessen das Medaillon auf.
Sie schloss die Kette wieder hinter ihrem Hals, wobei sie eine sehr eigenartige Empfindung verspürte, so, als hätte jemand ihre Hände dabei ganz zart berührt. Und als sie in den Spiegel sah, um das Schmuckstück an ihrem Hals zu betrachten, da glaubte sie eine sanfte Frauenstimme zu hören, die sagte:
„Trag es, mein Kind, es ist ein Geschenk von mir für dich“.
Einen kurzen Moment glaubte sie, bei diesen Worten im Spiegel eine Frauengestalt hinter sich stehen zu sehen, doch als sie sich irritiert nach ihr umdrehte, war sie verschwunden.
Seltsam, dachte Yuna, ich bin wohl ein bisschen gestresst. Schließlich neigte sie sonst ja eher nicht zu Halluzinationen. Obwohl sie zugeben musste, dass sie nach Michaels Tod mental sehr erschöpft und dadurch hypersensibel gewesen war. Aber das war schließlich überstanden, sollte es zumindest sein. So schob sie die eigentümliche Wahrnehmung auf ihre gestörte Nachtruhe und maß ihr daher weiter keine Bedeutung bei.
Das Medaillon beließ sie an der Kette. Es lag am Ansatz zwischen ihren Brüsten und sah so hübsch dort aus, als wäre es speziell für sie gemacht worden. Zauberhaft, dachte sie, freute sich über dieses einmalige Geschenk des Meeres und lief bestens gelaunt hinunter, um ihre Mutter bei der Putzarbeit zu unterstützen.
Die beiden Frauen teilten die Arbeit untereinander auf und als Yuna mit den beiden Schlafzimmern im Obergeschoss und dem Bad fertig war, ging sie hinunter, um einen Blick in Opa Pierres Bibliothek zu werfen, die zugleich auch sein Arbeitszimmer war.
Seit ihre Mutter Großvaters Urne dort auf dem Kaminsims platziert hatte, hatte Yuna einen Bogen um diesen Raum gemacht. Auch war er für sie so eng mit der Persönlichkeit ihres Großvaters verwoben, dass sie fürchtete, ihn nicht betreten zu können, ohne in Tränen auszubrechen.
So öffnete sie eher zögernd die Tür und als sie die Schwelle überschritt, hatte sie das Gefühl, seine Anwesenheit nahezu körperlich spüren.
Der Geruch seiner Zigarren, die er mäßig aber regelmäßig rauchte, hing noch schwach in der Luft und über dem geschnitzten Stuhl am Schreibtisch lag noch seine Hausjacke.
Sie ging durch das Halbdunkel zu den Fenstern, zog erst einmal die schweren dunkelblauen Vorhänge zurück und öffnete dann die Fensterflügel, um den Sonnenschein hereinzulassen.
Einen Moment schaute sie auf das smaragdgrüne Meer, dann trat sie an seinen Schreibtisch, der groß und behäbig, neben den Bücherregalen den größten Teil des Raumes einnahm.
Eine Sammlung von Fotos in schönen Rahmen aus Silber oder edel poliertem Holz stand dicht gedrängt beieinander. Ein kleines Buch in einem hellen Ledereinband lag aufgeschlagen mit dem Rücken nach oben auf der Schreibunterlage. Sie wollte es gerade aufnehmen, um einen Blick hineinzuwerfen, als mit einem kurzen Knall eins der Bilder umfiel und dann vom Schreibtisch auf den dicken indischen Teppich rutschte. Yuna ärgerte sich ein wenig, weil sie so unachtsam gewesen war, es umzustoßen, und hoffte, dass der Rahmen und das Glas keinen Schaden genommen hatten. Sie bückte sich schnell, um es wieder an seinen Platz zurückzustellen.
Das Bild war auf die Scheibe gefallen und als sie es aufhob und umdrehte, blickte sie geradewegs in das bärtige Gesicht ihres Vaters.
Sie schmunzelte. So würde er heute nicht mehr herum laufen. Das passte nicht zu einem durch und durch bürgerlichen Anwalt und Notar. Dabei stand ihm der Bart ganz ausgezeichnet und in dem blauen Troyer wirkte er damit , wie ein bretonischer Seemann.
Das Foto war weit über zwanzig Jahre alt, Yunas Großvater musste es kurz nach Yanniks Geburt geknipst haben. Sie erinnerte sich , im Familienalbum ein ähnliches Bild gesehen zu haben, auf dem ihr Vater Yannik in einer Trage auf dem Rücken trug. Das Foto war ebenfalls in der Bretagne entstanden, in einem Sommer, noch vor ihrer Geburt.
Wie schnell doch die Zeit vergeht, dachte sie. Jetzt war Yannik ein Kerl von 30 Jahren und ihr Vater würde bald seinen siebzigsten Geburtstag feiern. Und sie selber… sie brach den Gedankengang ab, sie selber war jetzt schließlich nicht das Thema…was aus ihr noch werden würde, würde man sehen… da gab es noch viel Potential und nun, mit diesem Haus, eröffneten sich ihr ganz neue ungeahnte Möglichkeiten. An Triskell war doch ein herrliches Refugium für eine Künstlerin, vielleicht sollte sie noch einmal einen Anlauf nehmen.
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