Ein bretonisches Erbe
Hier zu malen, würde auf jeden Fall eine ganz andere Erfahrung sein, als in dem beengten Atelier, welches sie sich in Deutschland mit mehreren Studienkollegen hatte teilen müssen. Da gab es weder das richtige Licht noch Freiheit und nur kalte Betonwände statt inspirierender Farben und fließender Bewegung, wie sie das Meer im Wechsel der Gezeiten bot.
Sie putzte den Rahmen und das Glas, stellte das Bild zurück und begann auch die anderen Rahmen abzustauben. Dabei erregte ein weiteres Foto ihr besonderes Interesse. Es zeigte ihren Großvater mit einer zarten jungen Frau vor dem hässlichen Bunker, der im westlichen Strandabschnitt noch immer ein Schandfleck war. Sie trugen beide Uniform und die Frau war offenbar einer Militärkrankenschwester
Yuna wunderte sich ein wenig über diese Aufnahme, denn ihr Großvater hatte nie erzählt, dass er schon während des Zweiten Weltkriegs in der Bretagne gewesen war, geschweige denn, dass er, wie es schien, zu den Besatzungstruppen gehört hatte. Und wer war die junge Frau an seiner Seite, die so fröhlich in die Kamera lächelte? Sie sah sich das Bild genauer an. Die Qualität des Fotos war sehr schlecht und der alte Abzug schon reichlich vergilbt, aber ihr fiel doch eine gewisse Ähnlichkeit mit Henriette, der ersten Frau ihres Großvaters auf. Das schmale Gesicht und die kurzen dunklen Haare…
Sie suchte zwischen den anderen Fotos und wurde schnell fündig. Da war es ja – das Hochzeitsfoto! Tatsächlich, die junge Frau in der Schwesternuniform war Oma Henriette.
Das Hochzeitsfoto schien nur wenige Monate nach dem Foto beim Bunker aufgenommen worden zu sein und Yuna fragte sich, ob die beiden sich vielleicht hier in der Bretagne kennen gelernt hatten? Das würde natürlich die ganz besondere Liebe ihres Großvaters zu diesem Ort erklären. Denn gewiss hatte er sich hier seiner ersten Frau immer besonders nahe gefühlt. Sicherlich wusste ihre Mutter mehr darüber und Yuna beschloss ihr später ein bisschen mehr über die Familiengeschichte zu entlocken. Da schien es einige hochspannende Dinge zu geben, von denen sie bisher gar keine Ahnung gehabt hatte. Hatte ihr Großvater nicht in seinem letzten Brief geschrieben, dass dieser Ort eng mit der Familiengeschichte verbunden wäre? Da gab es gewiss noch einiges zu entdecken.
Allein Großvater Pierres Fronteinsatz in der Bretagne war mehr als erklärungsbedürftig. Wussten die Leute im Dorf davon nichts? Und wenn doch, wie konnten sie ihn trotzdem zum Ehrenmitglied bei den Anciens Marines machen? Das war doch sehr ungewöhnlich. Da musste sich ihr Großvater aber als Künstler wirklich enorme Verdienste erworben haben, dass man ihm das verziehen hatte. Gerade die älteren Leute im Dorf hatten gewiss keine guten Erinnerungen an die Besatzungszeit und gegenüber Deutschen der Kriegsgeneration immer noch verständliche Vorbehalte. Und mit einer gewissen Hochachtung fragte sie sich, wie es ihr Großvater geschafft hatte, hier dennoch Freunde zu gewinnen, die wie Monsieur Rufflé mit so viel Respekt von ihm sprachen.
Es muss seine Kunst sein, dachte sie bei sich, sein bildhauerisches Werk, das mit der Identität der Bretonen so eng verbunden ist. Die Menschen hier haben sich und ihre Heimat in seinem Schaffen wiedergefunden und das werden sie ihm ganz sicher gedankt haben.
Als sie die Bilder, darunter auch viele Schnappschüsse aus ihren eigenen Kindertagen, abgestaubt hatte, reinigte sie auch noch alles andere was auf dem Schreibtisch stand und lag. Eine schwere Schreibtischgarnitur mit Tintenfass, Stifteschale und Löscher aus poliertem rosa Granit, eine Schreibmappe aus hellem Leder und mehrere Ablagekästen aus Kirschholz, die voll gestopft waren mit unerledigten Briefen, Notizen und Entwurfsskizzen für neue Skulpturen. Ihr Großvater hatte sie nicht mehr bearbeiten können.
Der Gedanke machte Yuna so traurig, dass sie nicht weiter putzen mochte. Irgendwann würde sie Opas abgebrochene Arbeit zu Ende führen und alles einmal sortieren und archivieren. Aber nicht heute, es ging ihr einfach noch zu nahe. Alles atmete noch zu sehr seine Anwesenheit, als dass sie es schon wagen konnte, die schönen Dingen in diesem Raum als „Nachlass“ zu behandeln.
Sie schob die Kästen wieder ineinander und wandte sich stattdessen dem kleinen Buch zu, nach dem sie schon am Anfang greifen wollte, als das Bild ihres Vaters plötzlich vom Schreibtisch fiel. Wie es da so aufgeschlagen lag, wirkte das Büchlein, als hätte ihr
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