Ein bretonisches Erbe
müssen. Leicht fiel ihr das sicher nicht. Andererseits war das doch Vergangenheit, war es nicht viel wichtiger, was sie gemeinsam aus der Zukunft machten? Sie lächelte und schüttelte ein wenig den Kopf über sich selbst. Warum plötzlich diese Zweifel?
Julien war doch ein kluger ,einfühlsamer und sehr erotischer Mann und mit seiner charmanten Art verzauberte er sie jeden Tag aufs neue. Wenn sie ehrlich zu sich war, dann hatte sie sich so die Liebe eigentlich immer vorgestellt.
9
Spuren aus dunkler Zeit
Man wollte sich, einem altgeheiligten Gebrauche der Neuvermählten entsprechend, nach der Dreifaltigkeitskapelle begeben, die gleichsam am Ende der bretonischen Welt liegt… aber es war unmöglich, die Kapelle zu erreichen… Yann, der sich mit Gaud am weitesten vor gewagt hatte, wich zuerst vor der sprühenden Gischt zurück… es sah nun aus, als ob er her gekommen wäre, um seine Frau dem Meer vorzustellen. Aber das Meer machte den Neuvermählten ein böses Gesicht.
Pierre Loti, Islandfischer
Am nächsten Morgen wurde Yuna von einer blassen Morgensonne geweckt, welche über einer leichten Nebelbank stand, die wie ein zarter Schleier auf dem Wasser zu liegen schien. Darüber war der Himmel fast violett und ging dann in Abstufungen des blauroten Farbspektrums in immer wärmere Töne über, bis hin zu einem hellen Orange, über dem ein paar zerzauste Wolken schwebten.
Sie räkelte sich entspannt im Bett, wie sie es morgens gerne tat, und stellte dann erst fest, dass Julien neben ihr lag. Er schlief noch tief und sein entblößter Brustkorb hob und senkte sich bei jedem seiner regelmäßigen Atemzüge. Im ersten Moment mochte sie ihr Glück kaum glauben, aber als sie sich an seinen Oberkörper schmiegte und den kräftigen Schlag seines Herzens hörte, begriff sie, dass er Wirklichkeit war, dass alles um sie herum Wirklichkeit war – das Haus, das Meer, die Sonne und der Mann an ihrer Seite… das ganze neue Leben, in welches sie sich, mit einem Motorradtrip und einer Urne im Gepäck, hinein katapultiert hatte und in dem sie sich nun langsam einzurichten begann und heimisch zu fühlen.
Sie setzte sich auf und betrachtete Julien. Wie hatte sie ihn als kleines Mädchen bewundert und wie unfassbar war es, dass sie einander nun als erwachsene Menschen so glücklich machen konnten.
Eine Strähne seines dunklen Haares war ihm, wie so oft, in die Stirn gefallen und bedeckte teilweise die Augen. Seine Gesichtszüge waren markant, ohne jedoch hart zu wirken, auf seinen sinnlichen Lippen lag ein leichtes Lächeln, so als befände er sich in einem heiteren Traum.
Nach erfüllendem Sex war er am Abend in ihren Armen eingeschlafen.
Sie hatte sich eine Aromadusche gegönnt, war dann wieder zurück ins Bett gekrochen und hatte noch ein paar Seiten aus den Islandfischern gelesen. Zu ihrer Freude stellte sie fest, dass sich, genau wie für sie selbst, auch für Gaud alles zum Guten zu wenden schien.
Yann hatte ihr endlich seine Liebe gestanden und die beiden konnten sogar noch heiraten, bevor sein Schiff, die Leopoldine , auf Islandfahrt gehen musste.
Als Yuna das Licht löschte und sich dann in dem schönen Doppelbett an Julien kuschelte, war sie ziemlich sicher, dass sie in dieser Nacht wunderbar schlafen und wenn überhaupt, dann nur paradiesische Träume haben würde. Und so war es auch gewesen.
Nun war sie erfrischt und voller Tatendrang und da Julien noch so fest schlief, kam ihr die Idee, sich bei ihm ein wenig für seine Fürsorge zu revanchieren. So schlich sie sich leise aus dem Bett davon, um schnell im Ort frisches Baguette und Croissants zu holen.
Begleitet von Emo lief sie durch den leichten Morgennebel, der angenehm kühl die Haut streichelte, hinunter ins Dorf zur Boulangerie von Madame Mimi.
Die Besitzerin der Bäckerei war eine füllige, gutmütige Person von unbestimmbarem Alter, die mit jedem ihrer Kunden gerne ein Schwätzchen hielt. Und so kam es häufig vor, dass sich zu den Stoßzeiten, wenn Brot und Kuchen gerade frisch angeliefert worden waren, regelrechte Menschenschlangen vor ihrem Verkaufstresen bildeten. Aber weiteres Personal wollte sie, die mit ihrem Mann den Laden ganz alleine betrieb, nicht einstellen.
„Das rechnet sich nicht“, sagte sie einmal zu Yunas Mutter. „Zwei Leute ernährt der Laden, aber auch keinen einzigen mehr. Wenn im Sommer nicht das Touristengeschäft wäre, hätten wir schon längst schließen müssen. Die paar einheimischen Kunden sind zu wenig und
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