Ein bretonisches Erbe
verantwortlich zu machen war. Mit ihr hatte das alles jedenfalls nicht das Geringste zu tun.
Sie fand ihr Verhalten nun selber ziemlich rätselhaft und ganz allmählich begann sie sich zu fragen, ob es vielleicht die Wiederbegegnung mit Julien war, die sie so durcheinandergebracht und aus der Bahn geworfen hatte.
Irgendwie war es schon ein Schock gewesen, ihn nach all den Jahren so erwachsen wieder zu sehen. In ihrer Erinnerung war er einfach in seiner Entwicklung stecken geblieben, ein pubertierender Schlacks, der den Krebsen nachstellte, mit ihr Meerwasseraquarien baute und seiner kindlichen Kaiserin zeigte, wie man Angora-Ziegen kämmte.
Wie konnte sie dieses Bild mit dem großen, gut aussehenden und so selbstbewusst auftretenden Mann in Verbindung bringen, der aus ihm geworden war? Es war wie eine Zeitreise zwischen völlig verschiedenen Welten und kaum zusammenzukriegen.
Eigentlich gab es nur einen einzigen Weg, den die Liebe gehen konnte, die Liebe zwischen dem Mann und der Frau, die sie heute waren. Sie mussten sich vollkommen neu entdecken und wenn das funktionierte, dann würde alles Möglich sein. Dann konnte es, über die Krise der Gegenwart hinweg, tatsächlich eine Zukunft für sie geben, eine wunderbare Zukunft voller Hoffnung und Glück!
Aber liebte Julien sie überhaupt noch? Wenn er sie wirklich lieben würde, dachte sie traurig, dann hätte er sie doch nicht so weggeschickt. Dann hätte er ihr beigestanden und nicht seinem Großvater. Auch wenn sie sich nicht gerade geschickt und höflich benommen hatte… Wenn er sie lieben würde, hätte er ihr nicht das Haus seiner Großeltern verboten, sondern hätte versucht, zwischen ihnen und ihr zu vermitteln. Schließlich wollte sie niemanden verletzen, sondern nur eine dunkle Geschichte aus der Vergangenheit ans Licht holen… War das so verwerflich?
Wozu hatte der Mensch denn einen kritisch forschenden Geist, wenn er ihn nicht benutzen durfte? Und so entsetzlich das Geschehen von 1943 auch war – es war Geschichte! Bald würde niemand mehr leben, der dabei gewesen war. Sie dachte an Monsieur Rufflés Worte, sollten die Enkel dann immer noch darunter leiden? Konnten mit ihrem Tod nicht auch die Sünden der Väter endlich begraben werden?
Sie begann wieder zu weinen und erneut zweifelte sie an Julien. Nein, das war keine echte Liebe, wenn er in einer Krise nicht zu ihr hielt!
Warum gab es so eine Liebe wie zwischen Gaud und Yann nicht wirklich? Warum geriet sie immer an die Michaels in ihrem Leben, niemals an einen Grand Yann?
Ihre Füße fühlten sich plötzlich kalt und nass an.
Ein Schreckensschrei entfuhr ihr. Der Felsen, auf dem sie hockte war rings von schwarzem Wasser umgeben, das mit leise schmatzendem Geräusch gegen den Stein schlug und dann in mehreren Strudeln verwirbelte.
Sie sprang auf die Beine und sah sich schockiert um. Während sie unglücklich und in Gedanken verloren auf diesem Felsbrocken im Zentrum des Felsendoms gehockt hatte, war unbemerkt von ihr der Wasserpegel mächtig angestiegen.
Sie schaute auf ihre Uhr und stellte erschüttert fest, dass die Flut bald ihren Höhepunkt erreichen würde und das hieß, dass dann die gesamte Höhle volllaufen würde. Sie lag ja, wie sie wusste, bei Flut unter dem Meeresspiegel. Besonders mit ihren tieferen Teilen, aber selbst der Einstieg würde in der Brandungszone liegen und kaum noch passierbar sein.
Panik ergriff sie, als sie sah, dass aus der Felsspalte, die in den Gang zum Ausgang führte, das Wasser schäumend hervor spritzte. Würde sie überhaupt noch hindurch kommen oder hatte die Flut schon den Einstieg erreicht und füllte nun mit ihren Wassermassen in rasender Geschwindigkeit den Felsendom bis auf die Höhe des Meeresspiegels auf?
Sie erinnerte sich an eine weit zurück liegende Physikstunde über verbundene Gefäße, in der ihnen die Lehrerin eindrucksvoll gezeigt hatte, dass sich der Wasserstand in zwei Gefäßen genau anglich, wenn sie miteinander durch einen Schlauch oder einen geöffneten Schleusenkanal verbunden waren.
Übelkeit stieg in ihr auf. Galt dieses Prinzip auch hier, dann war sie verloren. Der Meerespegel war auf jeden Fall höher, als die in der Grotte liegenden Felsen, auf die sie sich eventuell bis zur nächsten Ebbe hätte retten können. Nicht einmal der Größte von Ihnen, der Block mit der Inschrift, würde in einer halben Stunde noch aus dem Wasser ragen.
Sie zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub, denn ihr war schlagartig bewusst geworden,
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