Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
Vom Netzwerk:
verheilten und weitere Blasen bildeten sich nicht mehr.
    Hanna wunderte sich, wie schnell sie sich an das neue Leben gewöhnte. Bald war es, als hätte sie nie etwas anderes getan, als sich um Haus und Garten, um die Hühner, die Gänse und Enten und auch um die Schweine zu kümmern. Anfangs dachte sie noch oft an Kopenhagen, verglich die bäuerliche Küche hier mit der gepflegten, großbürgerlichen Küche der Goldes, oder sie erinnerte sich, wenn sie ihre und Bentes Kammer betrat, an das riesige Kinderzimmer in Kopenhagen, in dem Britta und Dani jetzt wieder allein schliefen, und sie sah, wenn sie das mit Möbeln vollgestopfte Wohnzimmer hinter der Küche sauber machte, den großen Salon und die Bibliothek der Goldes vor sich, verglich den schäbigen Lehnstuhl, in dem der Bauer abends saß, um seine Zeitung zu lesen, mit den schweren, mit Schnitzereien geschmückten Sesseln in Kopenhagen. Doch die leichte Sehnsucht, die sie dann und wann empfand, tat ihr nicht wirklich weh. Sie hatte das Gefühl, besser in diese karge Umgebung zu passen als in die Kopenhagener Eleganz. Und irgendwann fiel ihr auf, dass das Gefühl des Verlorenseins, das sie auch früher so oft beschlichen hatte, verschwunden war. Der Lindenhof war zu ihrem Zuhause geworden.
    Es gab nur eines, was sie wirklich vermisste, das war Jespers und Maries Werkstatt. Sosehr ihr die Arbeit auf dem Bauernhof gefiel, vor allem die Versorgung der Tiere, so sehr sehnte sie sich manchmal nach der friedlichen, konzentrierten Stille, die in der Werkstatt geherrscht hatte. Besonders abends, wenn sie wach im Bett lag, vermisste sie die Werkstatt. Bente schlief immer sofort ein, aber Hanna wälzte sich, egal wie erschöpft sie war, oft lange hin und her. Sie lauschte auf Bentes Atemzüge, auf die Geräusche draußen: das ferne Rufen von Nachtvögeln, das Muhen einer Kuh, das manchmal aufklang und sofort wieder verstummte, das kurze, warnende Bellen eines Hundes, wenn er eine Gefahr witterte, das Rauschen der Linde vor dem Fenster, die schweren Schritte des Bauern, wenn er die Treppe heraufkam und in seiner Kammer verschwand, am Ende des Gangs, direkt neben dem Schlafzimmer seiner kranken Frau. Dann starrte sie in die Dunkelheit, bis die Regale mit Gnomen und Zwergen, mit Trollen, Prinzen, Schweinehirten, Feen und Hexen aus den Wänden traten. Sie stand wieder in der Werkstatt am Tisch und knetete mit angefeuchteten Händen den Ton, der erst ein kühler, harter Klumpen Erde war und unter ihren Fingern warm und weich und lebendig wurde. Sie dachte an das Glück, das sie empfunden hatte, wenn eine Figur unbeschädigt aus dem Brennofen gekommen war, an das Vergnügen, das sie beim Anmalen empfunden hatte, sie erinnerte sich an den Stolz, wenn sie etwas Selbstgemachtes in den Händen hielt. Dann verkrampften sich ihre Finger vor Sehnsucht, und der Krampf löste sich erst, wenn sie den Zinnsoldaten von ihrem Nachttisch nahm und ihn streichelte. Es waren einmal fünfundzwanzig Zinnsoldaten, dachte sie, lauter Brüder, denn sie stammten alle von einem alten Zinnlöffel ab; sie schulterten das Gewehr und schauten geradeaus und wunderschön rot und blau war ihre Uniform. Alle Soldaten waren einander aufs Tüpfelchen gleich, nur einer unterschied sich ein wenig von den anderen. Er hatte nämlich nur ein Bein, denn er war zuletzt gegossen worden und da hatte das Zinn nicht mehr gereicht. Aber dennoch stand er ebenso fest auf seinem einen Bein als die anderen auf ihren beiden und gerade ihm sollte ein merkwürdiges Schicksal beschieden sein. Bei dem Wort »Schicksal« empfand sie einen leichten Schauer. Auch mir ist ein merkwürdiges Schicksal beschieden, dachte sie. Dieser Gedanke war tröstlich und traurig zugleich und manchmal brachte er sie zum Weinen.
    Doch abgesehen von diesen Momenten der Sehnsucht fühlte sie sich schon bald heimisch auf dem Lindenhof. Das war natürlich auch Mira zu verdanken, die ein- oder zweimal in der Woche abends zu ihr kam. Mit dem Fahrrad sei es wirklich nur ein Katzensprung, sagte sie. Bei schönem Wetter machten sie Spaziergänge durch die Felder, meist begleitet von Axlan, der mal neben der einen, mal neben der anderen herlief und diese Spaziergänge sichtlich genoss. Bei Regen saßen sie in der Küche am Tisch und erzählten sich, was seit ihrem letzten Treffen alles passiert war, auch wenn es sich nur darum handelte, ob eine Kuh gekalbt hatte oder was für eine dumme Bemerkung Morten mal wieder gemacht hatte, dass Mira sich beim Brotschneiden

Weitere Kostenlose Bücher