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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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in den Finger geschnitten hatte oder dass Hanna gerade lernte, die Kühe zu melken. Über früher sprachen sie immer seltener, Mira ließ das nicht zu. Einmal, als Hanna etwas erzählen wollte und anfing mit: »Daheim in Leipzig«, unterbrach Mira sie wütend. »Hör auf! Wir leben jetzt hier, in Dänemark. Wir haben es uns nicht ausgesucht, aber so ist es nun mal. Und irgendwann, wenn dieser schreckliche Krieg vorbei ist, fahren wir nach Palästina. Das ist es, was zählt, sonst nichts. Deutschland liegt hinter uns, merk dir das.«
    Hanna fügte sich, natürlich fügte sie sich, und als sie sich später, nachdem Mira gegangen war, an diese Szene erinnerte, wusste sie schon nicht mehr, was sie eigentlich hatte erzählen wollen.
    Sie gewöhnte sich wirklich gut ein auf dem Lindenhof. Ein Problem gab es allerdings, nämlich wie sie zu den Gruppentreffen nach Nyborg kommen sollte. Zu Fuß waren die acht Kilometer zu weit, und einen Bus, der manche Dörfer mit der Stadt verband, gab es hier nicht, die nächste Haltestelle war vier Kilometer entfernt, an der Kreuzung zweier Landstraßen. Die meisten Mädchen kamen, wie Mira, mit Fahrrädern zu den Treffen. Schula hatte versprochen, sich nach einer Fahrgelegenheit für Hanna umzuschauen, aber das war wohl schwieriger, als sie gedacht hatte.
    Eines Abends, als sie alle fünf um den Küchentisch saßen, der Bauer, Morten, Bente, Rasmus und Hanna, fragte Bente, warum sie so ein Gesicht machte.
    »Jetzt sind alle Mädchen meiner Gruppe in Nyborg«, sagte Hanna. »Nur ich nicht.«
    »Du könntest doch mein Fahrrad nehmen«, sagte Bente. »Oder das Rad von der Frau.« Sie schaute den Bauern an und dieser nickte. »Ja, natürlich kann sie es nehmen, es braucht ja sonst keiner.«
    Hanna senkte verlegen den Kopf. »Ich kann nicht Rad fahren«, sagte sie.
    Rasmus starrte sie erstaunt an und rief: »Rad fahren kann doch jedes Kind!«
    »Bei Juden ist es vielleicht anders«, brummte Morten. »Ich hab noch nie einen Juden auf einem Fahrrad gesehen.«
    »Quatsch«, sagte Rasmus nur und erbot sich, Hanna das Radfahren beizubringen. Von da an übte er jeden Tag eine Weile mit ihr und er war ein guter Lehrer. Als sie nicht mehr dauernd abspringen musste und es ihr sogar in den Kurven gelang, ihr Gleichgewicht zu halten, machte ihr das Radfahren großen Spaß. Rasmus zeigte ihr auch, wie man einen platten Schlauch flickte, und dann brachte er ihr noch eine kleine Schachtel mit, in der sich drei Flicken, eine Feile und eine Tube Klebstoff befanden, und sagte: »Jetzt kannst du nach Nyborg fahren.«
    Mira, die den Weg bereits kannte, holte sie ab und sie fuhren gemeinsam los. Hanna war so stolz wie noch nie in ihrem Leben. Als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten und die Landstraße entlangfuhren, meinte sie schon das Meer zu riechen, diesen unverwechselbaren Geruch nach Salz und Algen und Fischen, den sie so liebte. Mit jedem Kilometer wurde der Geruch stärker. Am liebsten hätte sie laut gesungen vor Freude. Aber deutsche oder hebräische Lieder, die einzigen, die sie hätte singen können, gehörten bestimmt in Schulas Schublade »Wir wollen doch nicht unnötig auffallen«, deswegen summte sie nur leise vor sich hin. Sie sah die flache Landschaft, die Felder und Wiesen, die sich bis zum Horizont hinzogen, sah den Himmel, der hier in Dänemark so hoch und weit war, spürte den Fahrtwind, der ihr erhitztes Gesicht kühlte, und empfand, vielleicht zum ersten Mal, ein Gefühl unbegrenzter Freiheit, ein Glück, das weit über das Radfahren hinausreichte. Sie wünschte sich, dieses Glück würde nie aufhören, und dabei hatte sie doch längst gelernt, dass kein Glück von Dauer war.
    Schula hatte von einer Inger Abrahamson, einer dänischen Jüdin, einen großen Kellerraum zur Verfügung gestellt bekommen, und die Mädchen machten sich gemeinsam daran, den Raum, den sie großspurig »Zentrum« nannten, zu reinigen und herzurichten. Sie strichen die Wände mit weißer Kalkfarbe, Rachel nähte Vorhänge für die beiden kleinen Fenster, nur wegen der Gemütlichkeit, denn hereinschauen konnte sowieso kein Mensch, es sei denn, er würde sich auf den Boden knien, den Kopf in den Fensterschacht schieben und sich den Hals verrenken. Schula organisierte Tische und Stühle, und Rebekka zimmerte aus Brettern ein Regal, in das sie alle möglichen Sachen stellten, die sie aus Deutschland oder aus Kopenhagen mitgebracht hatten: die Bücher über Palästina und über jüdische Geschichte, zwei

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