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Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser

Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser

Titel: Ein Bündel Geschichten für lüsterne Leser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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gelben Zettel. Die Unterhaltung war so zurückhaltend und zivilisiert verlaufen, wie er es sich nur wünschen konnte; und deshalb war ihm auch wohler – wegen des Versprechens, das er Enid gegeben hatte. Ganz so selbstbewusst war er allerdings nicht mehr, als die große Uhr im Gang des Büros auf zwanzig nach sechs zeigte; aber vielleicht erwies es sich, dass dieser alte Knabe ein wahrer Noel Coward für alles und jedes war. Am liebsten hätte er Cyril Hardeen niemals kennengelernt, niemals Anlass gehabt, sich ihn beim liebevollen Zusammenwirken mit Enid Patterson vorzustellen. Etwas besser fühlte er sich allerdings, als er im Waschraum des Büros war, um sich zu erfrischen; er betrachtete sein junges Gesicht, die glatte Kinnlinie, und wusste, dass er – trotz allem, was Enid für Hardeen empfand – dieses eine besaß: dieses saubere, ungetrübte Aussehen und die Kraft der Jugend. Welche Chance hatten dagegen weiße Haare und von der Zeit erschlafftes Fleisch?

    Cyril Hardeens Adresse war, wie sich herausstellte, ein renoviertes Haus aus Sandstein in einer stillen Straße der East Side. Elliot läutete, und sofort öffnete ihm ein kräftiger Mann in weißem Hemd und schwarzer Fliege, der gerade ein graues Jackett überzog, das nicht zu seinen schwarzen Hosen passte. Mit der abgeplatteten Nase und dem narbigen Gesicht machte der Mann nicht gerade den Eindruck eines Butlers, obgleich er diese Funktion zu haben schien. »Mr. West?« sagte er mit sanfter Stimme. »Mr. Hardeen erwartet Sie.«
    Elliot trat in die Diele und ließ zu, dass der Mann ihm Mantel, Halstuch und Handschuhe abnahm. Die Diele war schmal, aber in den tapezierten Wänden befanden sich schattige Nischen, in denen kühle weiße Büsten heroischer Gestalten standen.
    »Hier entlang, bitte«, sagte der Butler, und Elliot folgte ihm. Es war ein eindrucksvoller Raum, so eingerichtet, wie ein englischer Lord des neunzehnten Jahrhunderts wahrscheinlich seine Ausgrabungen aufgestellt hätte. Das
    Mobilar war stabil und stand auf Löwenpranken, die tiefe Polsterung war mit kostbarem Samt überzogen. Der Kamin war groß genug, um einen Ochsen am Spieß zu braten, und davor stand ein kostbarer Tisch mit einem eingelegten Schachbrett; die Figuren selbst waren fünfzehn Zentimeter hoch und in Schlachtordnung aufgestellt. Lediglich die weiße Königin fehlte. Sie befand sich in Cyril Hardeens Hand, als dieser aufstand, um seinen Gast zu begrüßen, und bei der Art, wie sein Daumen über die glatte Oberfläche des königlichen Leibes strich, krampfte Elliots Magen sich zusammen.
    »Pünktlich auf die Minute«, sagte Hardeen fröhlich. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind, Mr. West. Ich freue mich ehrlich, Sie kennenzulernen.«
    Ihm die Hand geben? Elliot war sich nicht ganz sicher. Er unterließ es. Mit einer Handbewegung forderte Hardeen ihn zum Platznehmen auf und hielt ihn dann dadurch zum Narren, dass er sich selbst nicht setzte und damit den Vorteil hatte, von oben auf ihn hinunter zu blicken. ›Ein Punkt für dich‹, überlegte Elliot.
    »Wie wäre es mit einem Drink? Ich mache meine Wahl immer vom Wetter abhängig. Sehr kalt – Kognak. Mild – Scotch. Warm – Gin.« Hardeen lachte vergnügt.
    »Gin«, sagte Elliot. Draußen war es kalt. Ein Punkt also für ihn. Prüfend beobachtete er den alten Mann, der die Gläser füllte. Don Quichotte war kein schlechter Vergleich: Hardeen war dünn und hager, jedoch nicht sehr groß. Sein Haar war voll und wachsgrau; seine feine Nase und der schmale Mund wurden von einem fast unsichtbaren Schnurrbart getrennt. Am eindrucksvollsten waren jedoch seine Hände: Sie waren wie gemeißelt, empfindsam und alterslos.
    »Hören Sie zu«, sagte Elliot. »Warum kommen wir nicht gleich zur Sache, Mr. Hardeen? Ich bin überzeugt, dass ich Ihnen nicht erst erzählen muss, was Enid bei dem allem empfindet. Sie ist – nicht undankbar für das, was Sie für sie getan haben, und hat nur den Wunsch, dass nichts Unerfreuliches geschieht. Sie hält sehr viel von Ihnen – das wissen Sie sicher selbst.«
    Hardeen neigte den Kopf zu einer knappen höhnischen Verbeugung.
    »Ich möchte nicht, dass es irgendwie gönnerhaft klingt«, sagte Elliot, »aber Sie müssen doch damit gerechnet haben, dass etwas Derartiges früher oder später passiert. Sie konnten doch nicht erwarten, dass sie...« Er unterbrach sich.
    »Einen älteren Mann liebt?«
    »Von Liebe habe ich nichts gesagt.« Höflichkeit wurde langsam langweilig. »Warum sollte ich

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