Ein Clochard mit schlechten Karten
,Ich geb’s auf’, schien es zu sagen.
„Und wir werden jetzt ebenfalls
zu ihr gehen“, fügte ich hinzu. „Wenn Sie noch nie eine Pythia von nahem gesehen haben, jetzt ist die Gelegenheit da.“
„Sie wollen, daß ich mit Ihnen
zu ihr gehe?“
„Ja, als Zeugin. Das macht ‘n
wichtigen Eindruck.“
„Um diese Zeit?“
„Um diese Zeit macht das noch
einen viel wichtigeren Eindruck. Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß
ist. Demessy ist zwar schon fast kalt, aber der
Spruch gilt trotzdem. Vielleicht besteht ja kein Zusammenhang zwischen Demessys Geschenk und seinem Besuch bei Madame Joséphine.
So heißt nämlich die gute Frau. Aber fragen kostet nichts. Irgendwas stimmt da
nicht. Man muß jede Spur verfolgen. Alte Privatflic -Weisheit.
Kann sein, daß meine Phantasie mit mir durchgeht, aber Joséphine... Gestern war
ich bei ihr. Sie schien mir unruhig, nervös... Hab das Gefühl, sie hat mir was
verheimlicht. Irgend etwas wird einem übrigens immer verheimlicht. Sie zum Beispiel, Jeanne: Hätten Sie
mir das nicht schon alles gestern erzählen können?“
„Aus welchem Grund?“ fragte
sie. „Aber heute, nach dem, was Sie mir erzählt haben... von dem Parfüm der
Frau...“
„Also gut. Gehen wir!“
Es war elf Uhr vorbei.
* * *
Ich weiß nicht, welche
Sportveranstaltung im Vélodrome d’Hiver stattfand. Vielleicht war’s auch was Politisches. Jedenfalls war die Hölle los.
Das Geschrei der tobenden Menge war schon auf dem Pont de Passy zu hören.
Dagegen ging es im Haus von Madame Joséphine sehr viel leiser zu. Der
automatische Türöffner summte. Vor der Loge der verschlafenen Concierge
murmelte ich irgendeinen Namen, und schon waren wir im Treppenhaus. Ich drückte
auf den Lichtschalter. Auf dem Treppenabsatz der ersten Etage wurden wir von
leiser Musik empfangen. In der zweiten Etage rauschte eine Wasserspülung, in
der dritten herrschte Ruhe. Unser Ziel war die vierte Etage. Auch hier nicht
das geringste Lebenszeichen. Ob in der fünften jemand schnarchte, interessierte
uns nicht. Ich klingelte stürmisch bei der Wahrsagerin.
„Wissen Sie, was sie gleich
fragt?“ lachte ich.
Jeanne schüttelte den Kopf.
„Sie wird fragen: ,Wer ist da?’“
„Sie sind blöd.“
„Ich bin vielleicht blöd, aber
die Hellseherin ist zu blöd, Besucher zu identifizieren. Sie werden’s gleich sehen.“
Wir sahen nichts. Niemand
stellte die übliche Frage durch die Tür hindurch. Ich klingelte zum zweiten Mal
und nahm meinen Finger erst gar nicht mehr vom Knopf. Keine Reaktion. Das
Treppenlicht ging aus. Ich schaltete es wieder ein.
„Na gut“, sagte ich. „Sie ist
ins Kino gegangen oder ins Vélodrome . Dann warten wir
eben.“
„Hier? Auf der Treppe?“ fragte
das junge Mädchen und schlug den Kragen ihres Regenmantels hoch.
„Ich könnte es mir nie
verzeihen, wenn Sie sich erkälten würden. Deswegen werden wir in ihrer Wohnung
warten. Ihr Kaffee ist ausgezeichnet.“
„Haben Sie einen Schlüssel?“
„Ja.“
Jeanne kannte mich jetzt gut
genug, um sich über nichts mehr zu wundern. Ich holte also meinen „Schlüssel“
raus, ohne ihn ihr zu zeigen. Während ich das Türschloß zu verführen versuchte, erlosch wieder das Licht. Jeanne knipste es an. Meine
Bemühungen hatten noch keinen durchschlagenden Erfolg, und das junge Mädchen wurde
stutzig.
„Das ist ja gar kein
Schlüssel!“ rief sie plötzlich.
„Doch. Eigentlich ein
Pfeifenreiniger-Korkenzieher-Passe-partout-Dosenöffner-Zahnstocher. Der
Einfachheit halber nenn ich’s Schlüssel. Ist kürzer.“
Sie sagte ganz aufgeregt:
„Aber, das... das ist doch...“
„Strafbar. Stimmt. Aber unter
guten Bekannten mit ähnlichen Interessen...“
Jeanne seufzte:
„Wir werden Ärger bekommen, M’sieur Burma.“
„Ach was“, beruhigte ich sie.
Und sie beruhigte sich schnell.
Wenn junge Mädchen zwischen Angst und Lust am Abenteuer wählen müssen,
entscheiden sie sich immer fürs Letztere.
„Jo ist eine alte Freundin von
mir“, fuhr ich fort, „verständnisvoll und alles. Sie wird nicht böse sein. Wär
mir auch egal. Ich will sie nämlich sprechen, und zwar so bald wie möglich. Auf
dem Weg hierher hab ich nachgedacht. Die Sache mit Demessy hat hier begonnen. Davon bin ich überzeugt. Demessy hat die Wahrsagerin in einer bestimmten Absicht aufgesucht, die er dann nicht
mehr weiter verfolgt hat. Und von diesem Besuch an hat sich sein Leben
verändert, bis hin zu der ganz großen Veränderung, dem Drama
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