Ein Cottage zum Verlieben: Roman (German Edition)
meine Rolle. Ich fand es schon immer toll, mich zu verkleiden; ich stehe auf meiner Bühne und tue meine Pflicht.
»So, wer von euch kann mir sagen, was Retromode ist?«
»Es hat was mit der Vergangenheit zu tun«, erwidert Leon, der auf seinem Stuhl auf und ab hüpft. »Aber was haben Sie jetzt schon wieder mit Ihrem Gesicht angestellt?«
»Der Hund hat mich gekratzt«, antworte ich.
»Welche Rasse haben Sie?«, fährt Leon fort, der jetzt seine Bleistifte mit einem Cuttermesser anspitzt.
»Lasst uns beim Thema bleiben. Retromode. Kann mir jemand den Begriff definieren?«, frage ich und schreibe anschließend die Definition an die Tafel. Dann lasse ich sie die alten Kleidungsstücke herausholen, die sie von zuhause mitgebracht haben. Eins zu null für Laura. Ich habe das überprüft, was sie in der letzten Stunde gelernt haben – Curtis bezeichnet dies als »Erwerb von Leistungspunkten«.
»Oh, wie hässlich!«, ruft Jon lauthals, als Lizzy eine rosafarbene Polyesterbluse hochhält. Lizzy wird rot.
»Es soll hässlich sein«, bellt Amy. »Hast du das nicht verstanden?«
Bevor ich mich versehe, steuern wir auf den Dritten Weltkrieg zu. Wie soll ich jetzt bloß dazu übergehen, ein Kleidungsstück zu gestalten? Curtis zieht unaufhörlich die Augenbrauen hoch und rutscht auf seinem Stuhl umher. Hätte ich doch bloß eine zweite Packung Schokolinsen gekauft! Dann hätte er wenigstens etwas anderes, worauf er sich konzentrieren könnte. Seine Begleiterin, Mrs Parker, steht in Habachtstellung. Jetzt fehlt nur noch, dass Curtis von seinem Stuhl fällt.
Spontan beschließe ich, das Ruder herumzureißen und meinen Unterrichtsplan über Bord zu werfen.
»Okay, lasst uns hierüber sprechen. Dies ist eine wichtige Frage, mit der sich Kunst und Design beschäftigen: Wie definiert sich die Schönheit eines Entwurfs?«, frage ich und muss an den Annika-Katalog denken. Aber der Zeitpunkt, um jetzt in Pradas Korb herumzusuchen, scheint alles andere als geeignet zu sein.
»Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters«, erwidert Lizzy und zwirbelt an ihren Dreadlocks. Mir entgeht nicht, wie Mrs Parker eingehend ihre Fingernägel mustert.
»Was bedeutet«, fährt Amy fort, die Curtis’ Aufmerksamkeit auf sich zieht, »dass der Entwurf für einen bestimmten Zeitpunkt und Ort geeignet erscheint.«
»Er passt ins Zeitbild«, erklärt das rothaarige Mädchen mit einem schweren osteuropäischen Akzent.
»Vielen Dank …«, lobe ich in der vagen Hoffnung, dass das Mädchen vielleicht seinen Namen nennt.
Leon wedelt verzweifelt mit dem Arm und springt dabei beinahe auf. »Dann leg mal los, Leon«, nehme ich ihn dran und hoffe, dass ihn dies davon abhält, einige seiner Akrobatiknummern vorzuführen – insbesondere, da er heute ein aufmerksames Publikum hätte.
»Ich habe im Fernsehen einen Beitrag darüber gesehen, dass sich die Mode in gewissen Perioden entwickelt …« Ich beobachte Leon und gebe mir Mühe, dass mir nicht schwindelig wird angesichts der Art und Weise, wie er auf seinem Stuhl auf und ab hüpft, während er spricht.
Meine Schüler machen mich heute wirklich stolz. Vielleicht haben nicht alle die Abschlussprüfungen geschafft, aber sie sind alle zu unorthodoxen Denkansätzen und Diskussionen fähig. Curtis kritzelt eifrig Dinge auf sein Klemmbrett. Mrs Parker dagegen scheint nur Augen für Jim zu haben. Gott sei Dank. Wenigstens benimmt sich Jim heute.
Endlich kommen wir zum praktischen Teil des Unterrichts.
»Was kann man mit Stoff anstellen, um ihn zu verschönern?«
»Ihn besticken«, antwortet Lizzy.
»Mehr nicht?«
Dann kommt die Sache ins Rollen.
»Knöpfe annähen.«
»Mit Sicherheitsnadeln versehen. So auf Punker-Art.«
»Man könnte Spitze annähen. Wie bei einem Korsett, Miss.«
»Mit Kleber arbeiten, Klettverschlüsse dranmachen«, schreit Leon und ist sichtlich aufgeregt.
Ich teile sie in Dreiergruppen ein, wodurch schließlich Leon und ein sehr stiller Junge namens Adam übrigbleiben. Ich kann aber nicht jedes Problem lösen. Jim schließt sich den beiden an, während das ausländische Mädchen darauf beharrt, allein arbeiten zu wollen.
Dann sind sie alle auf den Beinen und kramen Kleidungsstücke aus ihren Taschen und den Eimern mit den Stoffresten hervor. Ihre Begeisterung erinnert an den Beginn des Winterschlussverkaufs, und das Studio gleicht einem wahren Flohmarkttreiben.
»Sie haben uns noch nicht gesagt, was wir tun sollen.« Amy ist wie immer auf Draht. Ich kann nicht
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