Ein Cottage zum Verlieben: Roman (German Edition)
übertrieben opulenten Origami-Kirschblüten aus Papier betrachtet. In Reedby dagegen ist der Frühling echt.
Wieder schaue ich meine E-Mails nach, ob in der Zwischenzeit etwas in meinem Eingang gelandet ist. Aber es gibt keine neuen Nachrichten. Ich versuche mir einzureden, dass ich mich gar nicht so sehr da hineinsteigern würde, eine Mail von Chris zu bekommen, wenn er mich nicht gebeten hätte, ihn bei seinem neuen Projekt zu unterstützen. Ich würde ihm gern meine Gedanken und Meinung zu Lorina Bulwers Stickerei mitteilen, die ihre Lebensgeschichte auf einen Quilt gestickt und den Chris mir im Textile Study Centre gezeigt hat. Aber um das zu tun, müsste ich mich hinsetzen und meine Worte gegen ihre kleinen, aufwändig gestickten Worte austauschen.
Ich krame das herangezoomte Foto des ersten gestickten Abschnitts hervor und lese mir noch einmal die winzigen Großbuchstaben ihrer Stickerei durch: ich miss lorina bulwer wurde von dr. pinching aus walthamstow untersucht und zu einer körperlich normal geformten frau erklärt . Die Worte dieser Stickerei jagen mir immer noch einen Schauer über den Rücken. Sie klingen so seltsam, so sonderbar, dass ich mich insgeheim frage, ob sie tatsächlich wahr sind. Doch warum sollte jemand die Botschaft fälschen, wo es doch Hunderte von Stunden gedauert haben muss, die einzelnen Großbuchstaben zu sticken.
Lorina Bulwers Quilt mit den einzelnen von Hand aufgestickten Buchstaben ist schlichtweg außergewöhnlich. Ebenso bemerkenswert ist die Tatsache, dass Chris mich gebeten hat, den Text der Stickerei zu übertragen – ich komme mir vor wie ein Indiana Jones der Stoffwelt.
Alles begann im Textile Study Centre in Norfolk, als Chris und ich uns weiße Spezialhandschuhe übergestreift haben und die aufwändig gestickte Botschaft gelesen haben. Emma, die Kuratorin, wich uns kaum von der Seite und warf immer wieder Bemerkungen ein wie »diese Stickereien erzählen eine traurige Geschichte.«
»Meiner Meinung nach erzählen die Stickereien nicht, sie schreien!«, stellte ich fest.
»Wirklich beeindruckend ist, dass Lorina Bulwer dies in der psychiatrischen Anstalt im Arbeitshaus für Arme und Behinderte in Great Yarmouth gefertigt hat«, erklärte Emma.
Jahrelang habe ich versucht, meinen Schülern Momentaufnahmen der Kunst- und Textilgeschichte nahezubringen. Immer wieder habe ich sie gefragt, ob die Objekte ihnen etwas erzählen, doch für gewöhnlich haben die Gegenstände weder meinen Schülern noch mir etwas gesagt. Aber hier ist es anders. Während ich weiterlese, schenke ich jedem einzelnen Wort Lorinas große Beachtung. Obwohl ihre Botschaft schon über hundert Jahre alt ist, spricht sie so deutlich zu mir, als sei Lorina selbst hier bei mir in diesem Raum.
Ich bewundere die Art, wie sie ihre Gedanken offen und ehrlich auf den Quilt gestickt hat. diese zwei widerlich aussehenden alten weiber ungelenke gestalten mit abscheulichem ruf aus cambridge … schmieren seiner frau honig ums maul und erzählen ihr welch gute partie ihr mann mit ihr gemacht hat . So viel zum Thema, dass Sticken nur etwas für höfliche Damen der Oberschicht war, die sich vor ihrer Hochzeit mit dem Besticken von Kissenbezügen beschäftigt haben! Lorinas ungehemmter Gedankenfluss spiegelt eine sehr mutige, aber dennoch sehr mürrische, verärgerte alte Frau wider. Und wahrscheinlich lautet die Antwort auf die Frage, welchen Zweck das Ganze hat, dass es einfach keinen konkreten Sinn hat.
Ich tippe meine Notizen ab und schicke Chris den Abschnitt. Sofort erhalte ich eine Antwort, doch es ist eine deprimierende Out-of-Office-Mitteilung, die mich kurz und knapp wissen lässt, dass er außer Haus ist und sich nach seiner Rückkehr bei mir melden wird. Wo ist Chris? Wohin ist er gefahren?
Plötzlich höre ich das Rumpeln eines Lkws, der vor dem Haus anhält. Dann klopft es an der Tür. Eigentlich erwarte ich niemanden, und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass die Handwerker sämtliche Arbeiten beendet haben und schon zur nächsten Baustelle weitergezogen sind. Robbie hat sich sehr über meine Wertschätzung seiner Arbeit gefreut. Ich hätte einem Mann, der weitaus mehr als seine Pflicht getan und meiner Tochter goldene Sterne an die Wand gemalt hat, auch nicht weniger als die volle Punktzahl geben können!
»Mrs Stark«, grüßt der Mann. Er kommt mir irgendwie bekannt vor, doch ich weiß im Augenblick nicht, woher ich ihn kenne.
»Hi«, erwidere ich.
»Ich habe eine Lieferung für Sie.«
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