Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Streit darüber gegeben, wie weit man sich als Schriftstellerin oder Reporter von der Wirklichkeit entfernen durfte. Bis Martin von der Recherche zu einer geplanten Reportage über Kaing Guek Eav,alias Duch, der zwischen 1975 und 79 quasi im Alleingang den Völkermord in Kambodscha, bei dem Tausende Männer, Frauen und Kinder Opfer des Pol-Pot-Regimes wurden, durchgeführt hatte, ausgezehrt und stark verändert aus Südostasien zurückgekehrt war und ihr das erste Mal Weltfremdheit und Unredlichkeit vorwarf, als sie ihm stolz das erste druckfrische Exemplar ihres neues Buches zeigte.
»Du lebst in einem Paralleluniversum, Brigitte«, hatte er müde gesagt und sie dabei mit leeren Augen angesehen, »und bemerkst es nicht einmal mehr. Für jede banale, nichtssagende Regung deiner beschissenen Romanfigur bist du sensibler als für das, was tagtäglich um dich herum geschieht! Vor deinen Augen könnte jemand sterben, und du würdest es nicht mal bemerken, geschweige denn fühlen. Weil du selbst tot bist. So tot wie deine Figuren.«
Hinterher, als sie im Bett lagen und sich ruppig liebten, war ihr die Auseinandersetzung seltsam unwirklich erschienen, wie eine Sequenz aus einem Film, bei dem sich das Gesprochene im Nachhinein nicht mehr mit den Schauspielern in Einklang bringen ließ. Und doch war etwas angestoßen und auf ungute Weise in Gang gesetzt worden, das sich nicht mehr aufhalten ließ. Der Samen des Zweifels und des Misstrauens war ausgesät.
Im August 1982 fuhr Martin, nachdem sie sich weiter als je zuvor voneinander entfernt hatten, gemeinsam mit dem Fotografen Jay Ullal in den Libanon. Auf sich und ihr Schreiben zurückgeworfen, hatte sie eines Tages das Gefühl, außer Mireille niemanden mehr zu kennen.
Manchmal blieb sie tagelang in ihrer Wohnung, ohne einen Fuß vor die Tür zu setzen. Die meiste Zeit saß oder lag sie im Bett und las in den Tagebüchern von Cornelia Goethe oder Selma Lagerlöf und hörte dabei Mahler oder Mussorgsky. Wenn sie zu arbeiten versuchte, kam sie schnell an eine Grenze, die es vor ihrer großen Auseinandersetzung nicht gegeben hatte.
»Hier ist es so schön, liebste Brigitte, ich wünschte, du wärest hier und könntest das sehen!«, schrieb Martin ihr in einem seiner Briefe aus Beirut. »All die Zypressen mit ihrem saftigen, strotzenden Grün. Dazu das flirrende Licht. Wenn man sich an die Sonne hält, die hier den ganzen Tag scheint und so oft schon gute Miene zum bösen Spiel gemacht hat, möchte man glauben, dass alles auf einen großen strahlenden Frieden hinauslaufen muss. Zwischen den Kriegsparteien hier und denen in Köln.«
Ein paarmal hatte er spätnachts angerufen und sie gebeten, seine Attacken gegen sie als Attacken gegen sich selbst zu sehen, und ihr anschließend auf seine sie jedes Mal verwandelnde Weise zu sagen versucht, wie sehr er sich auf seine Rückkehr nach Deutschland und damit auf sie freue.
Dann, am Abend des 14. September, war in den Nachrichten die Ermordung Bachir Gemayels durch den syrischen Geheimdienst vermeldet worden, und Brigitte war erschrocken vor dem auf der Anrichte in der Küche stehenden Radiogerät zurückgewichen.
Sie wusste, dass Martin in Beirut auf die Genehmigung wartete, Zutritt zum Hauptquartier der Falangisten in Aschrafija zu erhalten, um ganz in der Nähe Gemayels zu sein. Als sie am Morgen des 15. September ein Anruf aus Hamburg erreichte, in welchem Rolf Gillhausen, damals Leiter des Ressorts Reportage, erklärte, der Kontakt zu Martin sei abgerissen und mit der Ermordung Gemayels sei leider auch für Martin das Schlimmste zu befürchten, hatte sie sich für das Telefongespräch bedankt und zitternd aufgelegt. Anschließend war sie wie benommen in die Küche gegangen, um dem Gelben Frauenschuh, den Martin ihr zuletzt von einer Japanreise mitgebracht hatte, Wasser zu geben.
Wenige Tage später erhielt sie von einem Beauftragten des Auswärtigen Amtes in Bonn telefonisch die Nachricht, Martin sei zweifelsfrei als eines der Opfer des Bombenanschlags von Aschrafija identifiziert worden. Daraufhin setzte sie sich wie inTrance an ihre Schreibmaschine, nahm die graue Staubhülle ab und schrieb: »Mireille zögerte, diesem fremden Gefühl, dessen Schmerz sie bedrückte, seinen Namen zu geben: Traurigkeit. Denn es war ein so ausschließliches, so egoistisches Gefühl, dass sie sich seiner schämte – und Traurigkeit war ihr immer als ein verachtenswertes Gefühl erschienen. Sie hatte Kummer empfunden, Bedauern und manchmal
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