Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
Zickzackbewegungen verfolgte, wegen der fehlenden Augen an fremdartige Urtiere erinnerten.
Thomas Bertram schaltete das Licht wieder aus und versuchte, auf dem Stuhl, den die Nachtschwester ihm mit einem aufmunternden Nicken hereingestellt hatte, wieder einzuschlafen.
***
»Jaaaa?«, sagte sie atemlos, nachdem sie mit klopfendem Herzen das oben in der Diele stehende Telefon nach dem achten bösartigen Klingeln endlich erreicht hatte und zitternd den Hörer ans Ohr drückte.
»Kannst offenbar auch nicht schlafen, wie?«, erklang die aus Hunderten geführter Telefonate vertraute Stimme ihrer Lektorin und Freundin Helga Abraham.
Die beiden verband eine bald fünfzehnjährige Freundschaft.Helga hatte Brigitte Fischers 1974 erschienenen Debütroman »Mireille – Vagabundin der Liebe« aus der Vielzahl unverlangt an den Verlag eingesandter Manuskripte herausgefischt und lektoriert und war seither Brigittes erster Ansprechpartner im Verlag. Mehr noch: Helga war zu einem unverzichtbaren Bestandteil ihres seither ganz im Zeichen ihrer Mireille-Romane stehenden Lebens geworden, nachdem Martin, Brigittes langjähriger Lebensgefährte, 1982 in Ausübung seines Berufs als Kriegsberichterstatter für ein großes Hamburger Magazin im Libanon getötet worden war.
Helga war Brigittes beste Freundin, ihr erster Ratgeber und Retter in letzter Not, wenn ihr, was häufiger vorkam, in drohendem Behördenton abgefasste Mahnschreiben des Finanzamtes ins Haus flatterten, ihr sechzehn Jahre alter V W Golf sie mal wieder im Stich ließ und Brigitte, die gerne einsame Landausflüge in die Eifel oder ins Oberbergische Land unternahm, sie spätabends verzweifelt aus Käffern mit Namen wie Griesensiepen, Seifen oder Hardt anrief und in theatralischem Tonfall flehte: »Du musst mich retten, Helga!« Oder wenn Brigitte, was noch häufiger vorkam, wieder einmal ultimativ davon überzeugt war, nicht mehr weiterschreiben zu können, an einer unauflöslichen Schreibblockade zu leiden, als Schriftstellerin gescheitert zu sein.
Brigitte konnte sich ihr Leben nicht mehr ohne Helga vorstellen. Der Gedanke, während des Schreibens, und natürlich auch sonst, ohne Helga als Begleiterin durch den Alltag und ständig ansprechbereite Diskussionspartnerin auskommen zu müssen, war für Brigitte unerträglich. Dass sie ihr darüber hinaus des Öfteren, was sie inzwischen für selbstverständlich hielt, als geduldige Amateurpsychologin und nicht selten auch als Sündenbock zu dienen hatte, wenn sie mal wieder die Nerven verlor und sie von Weinkrämpfen geschüttelt anrief, das hätte Brigitte so natürlich nie zugegeben.
Ihr Debüt, für das sie sich auf Helgas Anraten hin das geheimnisvollklingende Pseudonym Marie Collier zugelegt hatte, war auf Anhieb ein Bestseller geworden. »Vanilleträume«, »Sie wollte zu viel« und »Gib nicht auf, Mireille!« waren gefolgt und allesamt fürs Fernsehen verfilmt worden. Sie hatten Brigitte Fischer zu einer der erfolgreichsten Romance-Autorinnen Deutschlands gemacht und ihr ein erkleckliches Vermögen beschert, das unangetastet auf irgendwelchen Bankkonten lag.
»Schlafen?«, rief Brigitte, die aus dem kühleren Gästezimmer im Souterrain, wohin sie am frühen Abend ihre Matratze samt Bettzeug geschleppt hatte, hinaufgehetzt war, nachdem sie dort unten stundenlang an den ersten einhundertfünfzig Seiten ihres neuen Romanmanuskripts gearbeitet hatte, »gar nicht dran zu denken bei der Hitze!« Die über der Küchenzeile angebrachte Uhr zeigte achtzehn Minuten vor drei.
Ihr neues Manuskript trug den vorläufigen Titel »Mireilles Entschluss« und schrieb die auf insgesamt zehn Bände angelegte Mireille-Serie um die junge französischen Adlige Mireille Latour fort, die von ihren Eltern gegen ihren Willen in ein abgelegenes Pensionat in den Schweizer Bergen geschickt worden war, um dort, fernab von Paris, ihren Geliebten Frédéric, den Sohn eines Politikers, zu vergessen.
Schon vor Martins Tod im Beiruter Stadtteil Aschrafija, wo er sechs Jahre zuvor gemeinsam mit dem designierten libanesischen Staatspräsidenten Bachir Gemayel und mehr als zwanzig seiner Gefolgsleute einem Bombenanschlag des syrischen Geheimdiensts auf das Hauptquartier der Kataib-Partei zum Opfer fiel, war Brigitte, die damals gerade ihren dritten Mireille-Roman »Sie wollte zu viel« veröffentlicht hatte, mehr und mehr aus der Wirklichkeit hinausgedriftet. Jedenfalls hatte Martin das behauptet. Immer öfter hatte es zwischen Martin und ihr
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