Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
nachdenklich von dem geöffneten Rioja und rauchte. Vor ihr lag der kleine helle Karton mit dem Baum-Zitat, das aus irgendeinem Grund im Arbeitszimmer auf dem Boden gelegen hatte.
Als aus der Garage Geräusche ertönten, ein Brummen, als ob jemand den Putz der Außenwand abschliff, durchsetzt von Radiostimmen. Dieser Kerl wollte sie offenbar ärgern und hatte sein Kofferradio, das ihr beim Betreten der Garage aufgefallen war, so laut aufgedreht, dass sie fast jedes Wort verstand. Sie nahm sich zwei Zigaretten aus der Player-Packung, knickte die Filter ab und schob sie sich wie die Stöpsel ihres Sony-Walkman in die Ohren. »Nicht mit mir, du Mistkerl!«
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dpa – Basisdienst, Hamburg
Flucht zwei und Schluß (Gladbeck) –
Heller Audi als Fluchtwagen
Der Fluchtwagen, ein heller Audi 100 mit dem Kennzeichen SHG-PE 42, entschwand in langsamer Fahrt in der Dunkelheit. Die Polizei hatte die zahlreichen Journalisten eindringlich gebeten, den Fluchtwagen nicht zu verfolgen, um die Geiseln nicht in Gefahr zu bringen.
Auf den Abbildungen der zerfledderten Volksausgabe des Lexikons der antiken Mythen seines Vaters aus dem Jahr 1964, die neben »Gullivers Reisen« im Wohnzimmerregal stand, war Charon unter anderem mit einem dunklen Schifferkittel bekleidet gewesen und hatte auf Adam beim ehrfürchtigen Betrachten einen ziemlich finsteren Eindruck gemacht.
Der alte Fährmann, der die Seelen der Toten über den Styx in den Hades schifft, verfolgte ihn als Jungen bis in seine Träume. Trotzdem musste er sich die drei Abbildungen immer wieder zwanghaft anschauen. Die erste zeigte einen Ausschnitt aus dem »Jüngsten Gericht« von Michelangelo. Die zweite war eine Darstellung aus Dantes »Göttlicher Komödie« und die dritte ein Fresko von Luca Giordano, das den Titel »Die Barke des Charon« trug. Auf allen dreien war Charon als muskulöser Riese dargestellt. Mit stechendem, furchteinflößendem Blick, wehendem Haar und riesigen spitzen Ohren.
Als er über sein Lenkrad gebeugt hörte, wie der eine Geiselnehmer mit dem vor ihm stehenden Mann mit dem Fotoapparat sprach, in der einen Hand den riesigen schwarzen Colt, in der anderen eine Zigarette, sah er auf einmal wieder Michelangelos Fährmann vor sich. Jetzt bin ich selbst ein Charon, dachte Adam, mit einem Bus voller armer Seelen auf ihrer Reise ins Ungewisse. In die Hölle?
Der Mythologie zufolge legte man den Toten eine Münze unter die Zunge, mit der sie Charon für seinen Dienst bezahlten. Wer keine Münze hatte, war dazu verurteilt, eine Ewigkeit lang an den Ufern des Styx umherzuirren. Was würden die beiden Typen, die den Bus seit einer halben Stunde in ihrer Gewalt hatten,ihnen statt der Münze unter die Zungen legen, bevor sie sie ins Jenseits beförderten? Ihre entwerteten Fahrscheine der Bremer Straßenbahn AG vielleicht? Oder die nach Öl riechenden Läufe ihrer Colts?
»Wir werden heil aus allem herauskommen«, rief seine Mutter Kachna jedes Mal beschwörend aus, wenn zu Hause in Srodula einer von ihnen mal wieder in der Klemme steckte. Als ihrem Mann eines Nachts ein Betrunkener vor den Wagen gelaufen war und man ihn wegen Körperverletzung anklagte und vor Gericht zerrte. Und auch, als sie eines Tages aus ihrer alten Wohnung an der lauten, aber geliebten Generale Stefana Grota Roweckiego vertrieben wurden, weil das Gebäude ohne ihr Wissen den Besitzer wechselte und der neue Eigner ihnen ohne Vorankündigung fristlos den Mietvertrag kündigte. »Wir werden heil aus allem herauskommen.« Ungezählte Male hatte Adam diese sechs Wörter aus dem Mund seiner Mutter gehört. Doch wie oft hatte sie am Ende damit recht behalten?
Er sah in den Rückspiegel. Ganz hinten, aneinandergekauert, saßen ein Junge und ein Mädchen. Der zweite Gangster stand mit dem Rücken zu ihm und hielt ebenfalls einen schweren schwarzen Colt in der Hand.
Das alles erschien ihm seltsam unwirklich, als müsste er nur die Augen aufreißen, und der Spuk wäre vorbei. Er spürte, wie die nicht nachlassende Hitze seine Glieder zu lähmen begann. Und plötzlich klammerte sich etwas in ihm an dieses von der Mutter so oft beschworene »Wir werden heil aus allem herauskommen«.
Er versuchte an etwas anderes zu denken und stellte sich den Geruch von Marthas nacktem Körper vor. Ein Duft, so wie Erde riecht, wenn langer Regen plötzlich endet. Ob sie seinen Brief wohl schon gelesen hatte? Und wie es der Taxifahrerin wohl ging, deren leuchtende graublaue, nicht sehr große Augen ihn seit ihrer
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