Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
ist nicht mehr Subjekt der Geschichte. Nur noch ihr willenloses Opfer.«
»Hört, hört!«, sagte Wandrey, und Marc fragte sich, ob das ehrlich oder ironisch gemeint war. Wandrey hob die Zeitung hoch und zeigte auf die Schlagzeile. »Also gut, reden wir über Opfer. Zum Beispiel hier die Geiseln. Haben die auch ihre Chance schändlich vertan, Subjekt einer Geschichte zu sein, und sind nur noch willenlose Opfer?«
»Das sind keine Opfer!«, sagte Rachael. »Das sind angepasste Kleinbürger. Spießer, die sich abends vor den Fernseher setzen und ›Wetten dass …?‹ glotzen. Die davon träumen, viermal im Jahr in Urlaub zu fahren, und auf ein Reihenhäuschen sparen, das sie nie bekommen werden. In den Zentren des Konsumismus gibt es keine Opfer mehr. Nur noch parasitäre Elemente, dienicht wissen wollen, woher der Reichtum ihrer Herren kommt, denen sie aus der Hand fressen. Die nichts wissen wollen von der Ausbeutung der Dritten Welt, vom persischen Öl, von Boliviens Bananen, Südafrikas Gold – wovon sie nichts abkriegen. Die wahren Opfer dieser Geschichte sind die beiden Knackis.«
Wandrey saß zurückgelehnt auf seinem Stuhl, rauchte und hörte zu. Lange sah er Rachael und Marc mit müden Augen ausdruckslos an. Dann beugte er sich vor, drückte seine Kippe im Ascher aus, erhob sich, klemmte sich seine Zeitung unter den Arm und sagte: »Die leninistisch-marxistische Revolution geht in die nächste Runde. Aha. Und die RAF lässt grüßen.«
»Es hat keinen Zweck, den falschen Leuten das Richtige erklären zu wollen. Das haben wir lange genug gemacht«, erwiderte Rachael trotzig und holte ihr Portemonnaie hervor, um zu bezahlen.
»Grüß deinen Großvater von mir«, sagte Wandrey. »Auch wenn er wahrscheinlich nicht mehr weiß, wer ich bin.«
»Der hatte gestern Abend einen Schlaganfall und liegt im Vinzenz«, sagte Marc.
»Das tut mir leid«, antwortete Wandrey. »Ich mochte den Alten.«
»Noch ist er ja nicht tot«, sagte Rachael und erhob sich ebenfalls.
»Na hoffentlich«, sagte Wandrey, drehte sich um, legte der Bedienung drei Markstücke auf den Tresen und ging hinaus.
»Du hast mich echt beeindruckt«, sagte Marc, als Wandrey verschwunden war. »Was du gesagt hast, deine entschiedene Haltung, einfach alles.«
»Der lebt doch gar nicht mehr«, sagte Rachael, »der und sein Zynismus. Wie ich solche Typen verachte.«
»Aber wieso sind die Gangster die Opfer und nicht die Geiseln?«, fragte Marc. »Tut mir leid, aber das verstehe ich nicht.«
»Weil sie zu denen gehören, die für die Ausbeutung, die sie erleiden,keine Entschädigung bekommen durch Lebensstandard, Konsum, Bausparvertrag, Kleinkredite, Mittelklassewagen. Die sich den ganzen Kram nie leisten konnten und nie werden leisten können. Weil sie die Versprechungen ihrer Eltern und Lehrer, Fürsorger, Vorarbeiter und Meister, Gewerkschaftsfunktionäre, Sozialarbeiter, Bewährungshelfer und Gefängnisdirektoren als Lügen entlarvt haben. Weil sie und nicht kleinbürgerliche Intellektuelle der Welt sagen, dass jetzt Schluss ist, dass es jetzt losgeht!«
Sie sah ihn an, rückte ein wenig näher und senkte die Stimme. »Ich bin jemandem begegnet, der mir die Augen geöffnet hat. Der mir gezeigt hat, was man lesen muss. Welche Filme man sich ansehen muss. Und was getan werden muss. Er hat mich zu geheimen Treffen mitgenommen. Da wurde nächtelang diskutiert, und es wurden Pläne gemacht. Es war wie ein Rausch. Eines Nachts lagen Waffen auf dem Tisch. Besondere Zwecke heiligen besondere Mittel. Es machte mich stolz, Teil einer größeren Sache zu sein.«
Sie machte eine Pause und sah mit leicht zusammengekniffenen Lidern hinaus auf den riesigen Parkplatz, auf dem die Autos in der Sonne funkelten. »Inzwischen macht es mir auch Angst. Mal sage ich mir, es ist richtig und notwendig, was wir tun, dann denke ich: Aber was ist, wenn dabei jemand für meine Überzeugungen sterben muss? Meine Seele ist im Moment ein Geisterhaus.«
Wieder machte sie eine Pause. »Du fragst dich, warum ich nach so langer Zeit einfach so wieder vor deiner Tür stehe.«
Marc war froh, dass die Frage, die ihm auf der Seele lastete, nun von ihr gestellt wurde. »Ja. Warum?«, sagte er.
»Weil ich mit jemandem reden muss. Über das alles. Weil ich dich wiedersehen wollte. Du weißt nicht mehr viel von mir. Das ist auch gut so. Aber wenn du bereit bist, das jetzt erst mal so zu akzeptieren, dann sehen wir uns wieder.«
Sie sah ihn lange an und zog dabei die Stirn kraus.
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