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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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übrigens der Jürgen gemacht«, sagte Marc, um von Rachaels Missgeschick abzulenken. Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf die großformatigen Schwarzweißfotografien an der Wand. »Ich darf dich doch duzen, oder? Außerdem ist Jürgens Vater gerade gestorben, Rachael. Er war genau wie mein Großvater im Martin Luther. Daher kennen wir uns nämlich.«
    »Er ist vor einen LKW gelaufen, der alte Idiot«, sagte Wandrey ungerührt und leerte lässig seinen Espresso.
    »Der Tod Ihres Vaters scheint Ihnen ja nicht gerade sehr nahzugehen!«, sagte Rachael und legte demonstrativ ihren Arm auf Marcs Schulter. Wandrey machte der Bedienung ein Zeichen für einen weiteren Espresso, drückte seine Zigarette aus und sagte, statt auf ihre Bemerkung einzugehen: »Habt ihr die Parolen am Anzeigerhaus und am Rathaus gesehen? Nicht schlecht. Fast wie an der Berliner Mauer.« Er steckte sich eine neue Zigarette an.
    »Ja, haben wir«, sagte Rachael.
    »Besonders gut ist der Spruch über die Bullen«, sagte Wandrey. »Habt ihr den gesehen? An der Außenmauer der Palette? Könnte glatt von mir sein.«
    »Ist er aber nicht!«, sagte Rachael und griff wieder nach dem Strohhalm in ihrem Glas.
    »Aber von dir, was?«
    »Ja, ganz genau!«
    Wandrey grinste, sagte: »Ha, ha«, und griff nach seiner Tasse.
    Marc, dem das zunehmend aggressiver werdende Geplänkel der beiden unangenehm wurde, mischte sich ein: »Jetzt hört auf damit.«
    »Aber wieso denn?«, protestierte Wandrey. »Gerade fängt die Sache an, mir Spaß zu machen.«
    Marc beugte sich nach vorn. »Sie hat recht, Jürgen. Die Graffitisind von uns. Wir dachten, wir müssen was tun. Und dann sind wir heute Nacht losgezogen.«
    Wandrey nippte an seinem Espresso. Dann setzte er die Tasse ganz langsam wieder auf dem kleinen Unterteller ab und sagte: »Respekt, Kinder. Ganz ehrlich.«
    »Bullshit!«, rief Rachael und sprang auf, machte zwei heftige Schritte in den Raum hinein, blieb genauso abrupt stehen, überlegte einen kurzen Moment und ging zu den Fotos, auf denen langhaarige Studenten in Parkas zu sehen waren, die untergehakt durch Berliner Straßen liefen.
    Wandrey, der sich lässig zurücklehnte, suchte Marcs Blick und zog mit einer Was-hat-sie-denn-Geste die Schultern hoch. Rachael kam zurück an den Tisch und sagte zu Marcs Überraschung: »Die Fotos da sind wirklich gut, echt!«
    »Ist lange her«, erwiderte Wandrey. »Damals lebten wir rund um die Uhr in dem Gefühl, dass was passiert. Die Stimmung war ständig am Kippen. Ich hab versucht, die Spannung festzuhalten. Als sie den Ohnesorg erschossen haben, war ich zufällig mit meiner Kamera in der Nähe und hab auf den Auslöser gedrückt.«
    »Die haben alle unter einer Decke gesteckt. Handlanger faschistisch-imperialistischer Politik. Dagegen muss man was tun, Aktionen starten, Widerstand leisten!«, sagte Rachael und stocherte wieder mit dem Strohhalm in ihrem verschmierten Glas herum. Marc sah sie bewundernd an. So hatte er sie noch nie reden hören. Er war stolz auf sie.
    »Wortgeklingel!«, sagte Wandrey. »Sinnlos und traurig. Denn worauf das hinausläuft, ist Krieg. Krieg zwischen ein paar Narren und dem Staat. Und wer am Ende gewinnt, das brauch ich euch ja wohl nicht erzählen.«
    »Unsinn!«, protestierte Rachael. »Reaktionäres Gequatsche. Wenn alle so denken würden, hätte es 68 und deine Fotos nie gegeben. Zum Glück gibt es auch heute noch Leute, die bereit sind, zu kämpfen.«
    »Kämpfen! Sieh an!«, sagte Wandrey. »Wogegen kämpft ihr denn?«
    Rachael ballte die Hand zur Faust und schlug damit im Rhythmus der Worte auf die Tischplatte. »Gegen Faschismus und Imperialismus. Wie es Marx in seiner elften Feuerbachthese formuliert hat: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern. Und genau das werden wir tun.«
    Wandrey grinste breit, hustete, verschluckte sich dabei, hustete heftiger, bis ihm Tränen in die Augen traten. »Und wer ist das: ›Wir‹?«
    »Leute, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die verordneten Zwangsverhältnisse zu zerschlagen.«
    Wandrey beugte sich nun ebenfalls vor. »Die Zwangsverhältnisse, das hört sich für mich ziemlich wischiwaschi an. Ging es nicht früher, soweit ich mich erinnere, ums Proletariat?«
    Rachael langte über den Tisch und nahm sich eine von Wandreys Zigaretten aus der Packung. Kommentarlos gab der ihr Feuer. »Das Proletariat hat seine historische Chance schändlich vertan«, sagte sie kalt. »Das Proletariat

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