Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
»Was meinst du? Kannst du das?«
»Ja«, antwortete er, ohne zu überlegen, und nickte. »Ja, ich glaube schon.« Im selben Augenblick gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und ließ ihn wortlos stehen.
***
Ahrens schlug die Augen auf und blinzelte ins Halbdunkel des Zimmers. Die viel zu kurze Nacht steckte ihm in den Knochen, er fühlte sich, als sei eine leichte Sommergrippe im Anzug. Außerdem war da so ein merkwürdiges Ziehen in der Leistengegend. Genau wie damals, wenn er einfach losgelaufen war, ohne sich vorher warm zu machen.
Anette lag reglos auf der Seite, ihr vom Kopfkissen leicht zerknautschtes Gesicht hatte sie ihm zugewandt. Ihre rechte Hand hatte sie unter das Kissen geschoben. Die Lider ihrer Augen schimmerten im Zwielicht perlmuttfarben wie die Innenseite einer Muschel.
Unwillkürlich hob er die Hand und berührte mit den Fingerspitzen seine Stirn. Im Traum hatte er versucht, Rösner gewaltsam zu entwaffnen, worauf sich aus dessen Colt eine Kugel gelöst und mit unbeschreiblicher Wucht seine Stirnplatte durchschlagen hatte. Dann war ihm schlagartig schwarz vor Augen geworden, und Ahrens war jäh aus dem Schlaf herausgekippt und hochgeschreckt. Doch da war nichts. Kein Blut und auch kein Einschussloch. Erschöpft atmete er auf.
Nach einem Blick auf den Wecker versuchte er, wieder einzuschlafen, und glitt hinab in die Schwärze. Und sofort kamen die Bilder wie beim Druck auf die Rewind-Taste eines Videorekorders zurück. Wieder versuchte er, Rösner zu überwältigen, und wieder traf ihn am Ende ein tödlicher Schuss. Im selben Moment läutete unten im Flur das Telefon, und er wurde wieder wach.
Er sprang auf, lief hinaus auf den kleinen Etagenflur, zog die Schlafzimmertür zu und verharrte so lange reglos, bis das Läuten verstummte. Dann lief er hinüber in Jasmins Zimmer. Die Tür stand offen. Durch die nicht ganz geschlossenen Lamellen der lindgrünen, mit lustigen Tigerenten-Motiven bedruckten Pappjalousie fielen grünlich gefilterte Sonnenstrahlen herein und malten leuchtend helle Streifen auf den kleinen, im Schlaf gefangenen Körper. Das von der Decke hängende Mobile warf, von den Sonnenstrahlen umspielt, bizarre Schatten an die Wand. Ahrens ließ sich vor dem Bett seiner Tochter auf den Boden sinken, sah sie ruhig an, legte den Kopf schräg und blinzelte. Dann berührte er ihren kleinen Kopf und begann sie zu streicheln.
Aus dem Schlafzimmer drangen trotz der angelehnten Tür Anettes schwere Atemzüge herüber. Sobald Jasmin ebenfalls wach wäre, würde er mit ihr in die Wümmewiesen aufbrechen, mit ihr Frisbee spielen, Vögel und Käfer und Libellen beobachten und ihr aus Hauffs Märchen vorlesen. Vorher würde er ihnen ein paar Sandwiches machen und etwas zu trinken einpacken. In seiner Phantasie sah er die feuerrote Plastikscheibe vor einem stahlblauen Himmel aufsteigen, untermalt vom Jauchzen seiner mit ausgestreckten Armen im hohen Gras stehenden Tochter, auf deren kleinem Kopf eine zitronengelbe Fujifilm-Kappe leuchtete.
Begleitet von einem schlechten Gewissen, dachte er an seine unten im Büro stehende schwere Bildübertragungsmaschine, die ein Vermögen gekostete hatte, und an das Material, das er schleunigst damit nach Frankfurt übermitteln musste. Der Stern hatte das, was er hatte retten können, noch in der Nacht erhalten. Zum Glück hatte er die dritte Kamera im Wagen gelassen.
Freiwald allerdings wartete bislang vergebens auf seine Lieferung, wahrscheinlich war er der Anrufer gewesen, um von ganz oben aus höchstpersönlich Druck zu machen. Wenn er sich ranhielt, konnte er noch vor dem Frühstück damit fertig sein.
Ahrens riss sich vom Anblick seiner schlafenden Tochter losund ging hinüber ins Bad. Er schaltete das Licht ein, stützte sich mit leicht zugekniffenen Lidern am Waschbeckenrand ab und schob sein müdes Gesicht ganz langsam und bis auf wenige Zentimeter vor den Wandspiegel. So nah, dass der von seinem Atem beschlug. Es entstand eine gräuliche Ebene, mit diffus erkennbaren Erhebungen und Vertiefungen, verwaschen wie das Luftbild einer x-beliebigen Nebellandschaft.
Er hatte seinem Gesicht noch nie größere Beachtung geschenkt, es war, wie es war. Doch nun zeichnete sich eine tiefe Ermüdung darin ab, von der Art, gegen die auch langer Schlaf nicht half. Unter seinen Augen lagen violette, wie Halbmonde geformte Schatten. Die Haut war stumpf und teigig. Das Haar an den Schläfen und an den Seiten veränderte auf bedenkliche Weise seine Farbe, spielte
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