Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
kleinzukriegen.
»Du musst sofort Heilsalbe drauftun, hörst du«, sagte Helga in beschwörendem Befehlston. »Du hast doch so was im Haus? Oder? Wenn nicht, hole ich dir schnell welche in der Apotheke.«
»Nein, schon gut, ich schau mal im Bad nach«, antwortete Brigitte und lief aus der Küche. Im Bad öffnete sie den Alibert-Schrank, nahm die blaue Nivea-Creme-Dose heraus und rieb sich die Hände mit der fettigen Paste ein. Sie hasste es, klebrige Finger zu haben. Doch um keine weiteren Fragen zu provozieren, rieb sie ihre Hände so lange gegeneinander, bis sie mit einem matt schimmernden Film überzogen waren, der sehr gut auch von einer Heilsalbe stammen konnte.
Zurück in der Küche, steckte sie sich eine Player an, schenkte Helga Kaffee nach und redete eine Zeitlang über ihre Schwierigkeiten mit dem neuen Manuskript.
»Ich habe lange und hart an den ersten Kapiteln des Buchs gearbeitet, doch offenbar nicht lange und hart genug. Denn wenn ich mir die Sätze jetzt ansehe, habe ich das Gefühl, in einen blinden Spiegel zu blicken. Ich kann mich nicht mehr darin erkennen. Ich weiß nicht mehr, was Schreiben bedeutet. Ich bin erschöpft und habe es satt, zu kämpfen.«
Brigitte sprang vom Tisch auf und lief erneut aus der Küche. »Brigitte? Hey! Was ist denn? Wo gehst du hin?«, rief Helga und sah ihr überrascht hinterher.
»Gleich!«
Brigitte kam mit einer Flasche Amarone in der Hand zurück, nahm zwei Gläser aus dem Schrank und den Öffner aus einer Schublade und machte die Flasche auf. »Ich brauch jetzt einfachein Glas. Willst du auch?«, sagte sie und füllte die Gläser mit der granatroten Flüssigkeit.
Helga sah auf ihre Uhr. »Es ist zwar noch nicht mal zwölf, aber, ach, warum eigentlich nicht?«, erwiderte Helga und griff nach einem Glas. »Und Amarone sowieso immer!«
»Ich will und kann so nicht weitermachen, Helga«, sagte Brigitte und trank einen Schluck.
»Willst du wissen, wann ich das letzte Mal Sex hatte? Das muss Jahre her sein. Mir ist, als ob ich eine Plastikfolie über dem Gesicht hätte, und jedes Mal, wenn ich ausatme, beschlägt die, und ich sehe nichts mehr. Ich will da wieder raus, will wieder was sehen und erleben. Und deswegen fahren wir jetzt in die Stadt und sehen uns die Verbrecher an.«
»Okay«, sagte Helga und trank einen Schluck, »wenn’s dir hilft, von mir aus. Schließlich hab ich dich ja auf die Typen hingewiesen.« Sie leerte ihr Glas, griff nach ihrer Handtasche und zog einen grauen Umschlag hervor.
»Hier«, sagte sie und schob Brigitte den Umschlag über den Tisch. »Die Informationen zu Martins Vater, um die du gebeten hast. Das ist alles, was Dirk im Spiegel-Archiv über ihn finden konnte. Nicht gerade viel. Aber interessant. Ich hoffe, es hilft dir weiter.«
»Du bist wirklich ein Schatz, Helga. Und sag deinem Bruder, dass ich ihn anrufe, um mich persönlich bei ihm zu bedanken«, sagte Brigitte und öffnete den Umschlag. Zum Vorschein kam etwa ein halbes Dutzend fotokopierter und am Rand datierter Zeitungsausschnitte, die sie kurz überflog. Zwei davon zeigten unscharfe Schwarzweißfotos von Christian Andernach, der in der Bildunterschrift als »der unbekannte Bruder« bezeichnet wurde.
»Was soll das heißen, der unbekannte Bruder?« Brigitte sah Helga fragend an. »Das verstehe ich nicht. Bruder von wem?«
Helga sah wieder auf die Uhr. »Nun lies schon weiter, dannsiehst du es.« Brigitte überflog den ersten Artikel. Bei dem Namen Hermann Göring hielt sie abrupt inne und sah Helga fassungslos an. »Was? Christian Andernach ist ein Halbbruder von Hermann Göring, dem Oberbefehlshaber der Deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg?«
»Ich hab’s zuerst auch nicht glauben wollen«, sagte Helga. »Aber es ist so. Christian Andernach hatte wohl nie viel mit Göring zu tun, aber sie hatten dieselbe Mutter. Als Dirk mich anrief und sagte, was er herausgefunden hat, fragte ich ihn, ob er Witze macht. Da hat er mir den Artikel, den du in der Hand hältst, in den Verlag gefaxt.«
»Mein Gott«, flüsterte Brigitte. »Göring hat die Ermordung der Juden angeleiert. Oder?«
»Im Juli 41 beauftragte er Heydrich mit der Organisation der sogenannten Endlösung der Judenfrage. Ich hab’s nachgelesen, als ich Dirks Brief bekam.«
»Mein Gott.« Aus Brigittes Gesicht wich sekundenschnell alle Farbe. »Dann war Martin mit diesem Monster verwandt, ohne es zu wissen.«
»Vielleicht hat er es gewusst und dir verschwiegen«, sagte Helga. »Um nicht darüber
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