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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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Kopfhörer. Bertram schwenkte auf das hintere Wagenfenster, in dem Silke Bischoff zu sehen war, mit Degowskis Colt am Hals. Sie sprach in ein Mikrophon, lächelte gequält, nickte, wirkte müde, erschöpft. Er ließ die Kamera auf ihrem Gesicht stehen, und je länger er ihr durch den Sucher dabei zusah, wie sie sprach, nervös blinzelte und sich das strähnig gewordene blonde Haar aus der Stirn strich, desto trauriger wurde er.
    Da saß eine junge unschuldige Frau mit einer entsicherten Waffe am Hals im Wagen, und nicht einer da unten kam auf die Idee, sie aus ihrer schrecklichen Lage zu befreien. Warum nicht? Warum taten alle so, als sei es das Normalste auf der Welt, mit Mördern zu reden? Sie zu interviewen und ihnen Feuer für ihre Zigaretten zu geben?
    Jetzt nicht denken, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Und dann, durch einen ungewollten Schwenk mit der Kamera nach rechts, fing er sie ein: Sirvan. Sirvan Petrossian. Seine Sirvan! Sie stand, eingeklemmt zwischen zwei Männern, am Heck desWagens und unterhielt sich mit einer Frau, die ein Basecap mit New-York-Mets-Aufdruck tief in die Stirn gezogen hatte und eine khakifarbene Fotoweste trug.
    Was zum Teufel hatte Sirvan hier zu suchen? In der unmittelbaren Nähe zweier schwerbewaffneter skrupelloser, unberechenbarer Verbrecher, die jeden Moment losballern konnten? Arbeitete sie denn nicht um diese Zeit? Oder hatte sie einfach, statt bei McDonald’s hastig einen Cheeseburger hinunterzuschlingen, ihre Mittagspause dazu genutzt, um sich das Spektakel aus nächster Nähe anzusehen, über das alle sprachen? Wollte sie da sein, um hinterher sagen zu können: Ich bin dabei gewesen in der Breiten Straße. Ich hab in Silke Bischoffs Augen gesehen. So, wie sie dem Mann, der vorgehabt hatte, vom AXA-Hochhaus zu springen, zugesehen und »Spring doch, spring doch« gegrölt hatte?
    Bertram schaltete die schwer auf seine Schulter drückende Sony aus, nahm sie herunter und wischte den Schweiß aus der rechten Augenhöhle. Die Sonne schickte ihre Strahlen mit sich steigernder Intensität herunter, gleißende Lichtbündel, die sich in den Schaufenstern der Geschäfte brachen und als stechende Blitze von dort auf die Menschenmenge zurückgeworfen wurden. Das Auto badete in einer Lache aus Licht, schien regelrecht darin zu schwimmen, umringt von Ertrinkenden, die sich daran festklammerten wie an einen riesigen Rettungsring.
    Bertram hatte nur noch Augen für Sirvan, die durch das Gestoße und Geschiebe immer weiter von dem Geiselfahrzeug weggedrängt wurde. Er hob die Kamera wieder vors Auge, doch Sirvan war verschwunden. Sein Puls schnellte in die Höhe, und er stieg von der Leiter. Doch hier unten, das hatte er nicht bedacht, war es unmöglich, sie zu finden. Also stieg er wieder hinauf und scannte die Szenerie. Er sah die Frau mit dem Basecap, und keine drei Meter davon entfernt Bässker, der tapfer sein Rycode in Rösners Richtung hielt. Sirvan war nicht mehr zu sehen.
    Bertram stieg wieder hinab und kämpfte sich in nördlicher Richtung durch die Menge auf die Frau zu. Er drängelte und boxte, schob und drückte und verspürte das schreckliche Verlangen, die Klinge seines Wenger-Taschenmessers, das er stets in seiner Hosentasche bei sich trug, in die schwitzenden Leiber zu stoßen. Wieder und wieder. Damit es endlich aufhörte, dieses geile Gieren. Diese monströse, dumpfe Geilheit. In seiner Vorstellung sah er sich zwischen Leichenbergen umhergehen. Vernichteten Feinden. Und der Ekel auf die Meute wurde so groß, dass ihm ein metallischer Geschmack über die Zunge lief.
    Nun war er nur noch eine Armlänge von der Frau mit der Basecap entfernt, hieb ungestüm mit der Hand gegen ihre Schulter und rief: »Hey, hallo, Sie da!«
    Die Frau reagierte sofort auf den Schlag. Irritiert ruckte sie mit dem Kopf in seine Richtung: »Autsch, verdammt!«
    »Ja«, rief Bertram, »ja, Sie«, und stieß den letzten Körper, der ihm jetzt noch im Weg war, einfach brutal zur Seite, es war wie ein Sog. Er drückte seine Finger in ein Gesicht, aus dem Schreie aufstiegen, drückte fester zu, in Augen, Mund und Nase. Verkrallte sich darin, als ginge es um sein Leben. Und dann waren die Schreie mit einem erstickenden Glucksen verstummt. Doch es war nur die Ruhe vor dem neuerlichen Lärm.
    »Was haben Sie getan?«, rief jemand aufgebracht und rüttelte an seiner Schulter. Und ein anderer: »Sind Sie verrückt geworden! Sie verdammtes Schwein!«
    Er betrachtete den am Boden liegenden Körper. Ein

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