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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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Fußgängerzone an der Breiten Straße. Das Herz von Köln. Rösner stellt den Motor ab.
    ***
    EXPRESS
    Eine Stadt hält den Atem an
    Gestern Morgen um 10.45 Uhr in Köln: Eine ganze Stadt hält den Atem an. Mitten in der City, in der Fußgängerzone an der Breiten Straße, gegenüber dem EXPRESS-Verlagsgebäude, steht der silberfarbene BMW der Gladbecker Geiselgangster. Riesige Menschenmassen umringen das Fahrzeug. Die Polizei darf sich nur verdeckt zeigen, weil die Gangster drohen, sofort zu schießen. Die Bürger fragen sich, wie das möglich sein kann, dass zwei lebensgefährliche Verbrecher in der Fußgängerzone stehen und sich Kaffee holen können wie beim Picknick. Doch ein Blick auf die zitternden Geiseln im Fond erspart die Antwort.
    ***
    WDR 2
    Fast zwei Stunden stand der Flucht-BMW in der Fußgängerzone. Geiselgangster bestellte sich in Metzgerei vier Kaffee.
    »Vier Kaffee, zweimal schwarz!« Volksfeststimmung in der Breiten Straße. Und was macht die Polizei?
    ***
    EXPRESS
    Im Wagen: Express-Redakteur musste Gangster aus der Stadt lotsen … »Silke winkte mir noch zu …« Von Udo Röbel / Was empfindet ein Verbrecher, der das Leben eines 15jährigen Jungen auf dem Gewissen hat? »Nichts«, sagt Geiselgangster Hans-Jürgen Rösner (31). »Absolut nichts. Ich bin selbst schon gestorben. In mir ist nur Leere und Kälte.«
    ***
    Frankfurter Allgemeine Zeitung
    Die Gaffer drängen sich um die Geiselnehmer. Ein bisschen Gruseln in der Mittagspause.
    »Ich dachte, der Papst fährt vorbei«, sagt ein Augenzeuge des fast zweistündigen Live-Krimis in der Kölner Innenstadt. Etwa acht Fernsehteams seien dem Wagen des Geiselgangsters anschließend auf seinem Weg zur Autobahn gefolgt, die Kameramänner wie Panzerfahrer aus den offenen Schiebedächern herausschauend. »Geisel-Tourismus« sei das gewesen, was sich am Morgen in der Breiten Straße abgespielt habe. »Richtig happy« seien die Leute gewesen.

Hatte das alles eben wirklich stattgefunden? Dieser ganze aberwitzige Spuk? Oder war er ein Opfer seiner überspannten Phantasie geworden, begleitet von diesem Gefühl, das fast alle Soldaten, die zu lange in zu großer Hitze herumgeirrt und irgendwelchen Gespenstern nachgejagt waren, früher oder später beschlich? Dem Gefühl, nicht länger zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden zu können. Verrückt geworden zu sein?
    Bertram saß in sich zusammengesunken vor einem Eiscafé namens Venezia, neben sich auf dem Boden die Kamera. Und die Leiter. Im Innern des Cafés wurde lautstark über den Auftritt der Geiselgangster diskutiert, und er wartete auf seinen Cappuccino.
    Er hatte Bässker mit den O-Tönen zum Schneiden in die Redaktion geschickt und versprochen, in Kürze nachzukommen. »Ich trinke nur noch schnell einen Kaffee!«, hatte er gesagt.
    Er saß im Halbschatten einer Linde, noch immer gefangen von dem, was er erlebt hatte. Als junger Journalist hatte er in einem Heft eine Liste angelegt, die er damals pathetisch »Die zehn Gebote des Journalismus« überschrieben hatte. Dazu hatten unter anderem Begriffe wie »Neugier«, »Streitlust« und »Rückgrat« gezählt. Auch später hatte er sich bei seiner Arbeit daran orientiert wie der Pilot an seinen Bordinstrumenten. Bis heute. Bis zu diesem Tag. Dem 18. August 1988. An dem schlagartig alles anders geworden war. Hier und heute hatte er erleben müssen, wie alles, was er bisher über seriösen Journalismus gedacht hatte, auf den Kopf gestellt worden war. Seine zehn Gebote des Journalismus waren praktisch im Handumdrehen zu Staub zerfallen.
    Es hatte eine große Bewegung gegeben, einen kollektiven Ruck, der durch alle hindurchgegangen war, die das Auto umringten.Als er auf die Leiter gestiegen war und anfing zu »arbeiten«, »Bilder machte« und darüber nachdachte, wie er die Geschichte »erzählen« würde, schien alles zunächst ganz leicht. Normal. Genau wie immer. Er konnte sich hinter das Objektiv zurückziehen wie hinter ein Gebüsch, das ihm Schutz bot. Und der Motor der Kamera surrte.
    Dann war Sirvan, seine Sirvan, im Sucher der Kamera aufgetaucht, und die Dinge gerieten ins Wanken. Und er verlor den Faden, verlor den Grund seines Hierseins aus den Augen.
    Lachend und lebensfroh wie jemand, der einem Jongleur dabei zusieht, wie er zur Belustigung des Publikums eine Handvoll Keulen in die Luft wirft, hatte Sirvan das Geschehen verfolgt. Tatsächlich aber war drei Meter von ihr entfernt keine Varieté-Nummer abgelaufen, sondern ein

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