Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
immer der Fahrer des Geiselbusses von Huckelriede bleiben.
Seine Mutter hatte ihn manchmal liebevoll »mein kleiner Kämpfer« genannt, wenn er als Kind hinfiel und gleich wieder aufstand. Daran musste er jetzt denken. Er war bereit, zu kämpfen. Wenn er wieder bei Kräften war und Staub über allem lag. Für sie. Für ein anderes, besseres Leben. Er würde Prosimir Zielinski, seinen alten Klassenkameraden in Sosnowitz anrufen und ihn fragen, ob er so lange bei ihm unterkommen konnte, bis er eine eigene Wohnung hätte.
Wenn er an Srodula dachte, fielen ihm komischerweise immer als Erstes die acht- oder neungeschossigen, kasernenartig anmutenden Reihenhäuser am Stadtrand ein, die, vom Zentrum her beleuchtet, an Winterabenden unter einem schwefelgelben Himmel radioaktiv leuchteten. Und an die Jungen, die genau wie er damals auf den weitgestreckten schneebedeckten Plätzen davor Fußball spielten, auf dass aus ihnen einmal ein Kazimierz Deyna werde.
Vorfreude auf die Heimat durchrieselte ihn. Sofort wirbelten weitere Erinnerungsbilder in ihm auf: der weitläufige Garten des Jagdschlosses Sielecki, in dem sie als 14-Jährige heimlich ihre ersten Zigaretten rauchten. Der überdachte Hof hinterm Haus, in dem die Hasenställe vom alten Rudzinski, einem ehemaligen Mitglied der Wojsko Polskie, der polnischen Streitkräfte, gestanden hatten und wo es alle Tage nach Heu roch. Und natürlich das Grab seiner Mutter Kachna auf dem Widok cmentarza, auf das er einen riesigen Strauß ihrer Lieblingsblumen legen würde: lilafarbene Astern.
In Deutschland hielt ihn nichts mehr. Weder Beruf noch Liebe. Nach allem, was er zuletzt erlebt hatte, war ein Bleiben unmöglich geworden. Er nahm den Koffer vom Schrank, öffnete ihn und begann, wahllos Kleider hineinzulegen. Wenn er sich ranhielt, konnte er in zwei Stunden am Bahnhof sein und einen Fahrschein kaufen: Einmal Sosnowitz, einfach. Vor allem aber musste er Karoly vorher erreichen, um ihm seinen Entschluss mitzuteilen. Später würde er es noch einmal versuchen. Anschließend würde er in den Dom gehen. In der Hoffnung, diese Chris zu treffen. Er zog die Schublade des Nachttischschränkchens auf und nahm die Karte heraus, die sie ihm zum Abschied in die Hand gedrückt hatte. Nachdenklich betrachtete er die flüchtig hingeworfene Zahlenreihe, studierte die Form jeder einzelnen Ziffer. Als müsste er sie nur lange genug ansehen, damit sie ihm etwas erzählten: am liebsten die Geschichte der Schlafenden im Dom.
Eine Viertelstunde später stand Adam angezogen in der Küche, trank eine angerührte Tasse Maxwell-Kaffee und kickte mit der rechten Schuhspitze nach den toten Fliegen auf dem Linoleumboden.
Das Kärtchen in der Hand, erfasste ihn plötzlich eine große Unruhe, als dürfe er keine Zeit verlieren. Er war aus dem Bett gesprungen, hatte sich die Kleider übergestreift und sich im Bad flüchtig das Gesicht gewaschen. Etwas in ihm drängte vorwärts,drängte nach draußen. Gleichzeitig schrie sein Körper nach Erholung. Sobald er sich bewegte, glaubte er jeden Muskel zu spüren, jede Faser. Bei jeder zweiten Bewegung knackte seine rechte Kniescheibe, und wenn er den Kopf hängen ließ, schoss ein kurzer, heftiger Schmerz durch seine Wirbelsäule.
Doch der Drang, hinauszulaufen, zu verschwinden, war größer als der Schmerz. Wenn er länger in der Wohnung blieb, wo ihn alles an Martha erinnerte und ihn sofort wieder die Bilder der vergangenen Nacht überfielen, würde er nie zur Ruhe kommen, sondern früher oder später verrückt werden.
Er stellte die leere Tasse auf dem Tisch ab, nahm im Flur seine Brieftasche von der kleinen Kommode, griff nach seinem Koffer und verließ die Wohnung. Als er ein Stockwerk tiefer vor der Tür des Studenten stand, legte er den Kopf seitlich dagegen und lauschte. Es erklangen die ersten Töne von »Echoes«, dem Auftaktstück von »Meddle«, die sich anhörten wie das Echolot eines U-Boots, das sein Signal in die Weiten des Ozeans schickt.
Adam nahm die letzten Treppenstufen, blieb vor den Briefkästen stehen, zog den kleinen Schlüsselbund, ihre Zweitschlüssel, aus der Tasche und schob ihn in den Schlitz des Kastens, auf dem »Martha Straußfeld« stand. Darunter war mit Tesafilm ein weißes, deutlich kleineres Schildchen befestigt, auf dem in Druckbuchstaben sein Name geschrieben stand. Sie oben, ich unten, dachte er. Sie die Große, ich der Kleine. So war es immer. Er riss den Tesa-Streifen ab, zerdrückte das Schildchen und ließ es auf
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