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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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seiner bisherigen Zeit bei der Polizei gelernt hatte.
    Kirchner empfand Wut und Empörung über das Verhalten der Einsatzleitung, die all seine Versuche, die Geiselnahme an Ort und Stelle und auf seine Weise, nämlich schnell und effektiv, zu beenden, selbstherrlich unterbunden hatte. Und seine Kollegen, die am Vortag mit im Einsatz gewesen waren, teilten seine Wut. Am schlimmsten war es, dazu verurteilt zu sein, tatenlos mitansehen zu müssen, wie die Polizei sich von zwei unterdurchschnittlich intelligenten Schwerverbrechern das Heft des Handelns aus der Hand hatte nehmen lassen. Statt entschlossen Schadensbegrenzung zu betreiben, hatte sich die Einsatzleitung erst zum Handlanger und schließlich zum Zuschauer einer Medienmeute gemacht, die einen verbrecherischen Akt sensationslüstern in ein Medienspektakel verwandelte.
    Als er am Ende aus Recklinghausen den Befehl erhalten hatte, seine Uniform anzuziehen, um gemeinsam mit seinen inzwischen ebenfalls uniformierten Kollegen den zahllosen Presseleuten ungehinderten Zugang zum bereitgestellten Fluchtwagen zu verschaffen, damit diese ungestört ihre Bilder machen und ihre Interviews führen konnten, da wäre er am liebsten auf der Stelle zum Befehlsverweigerer geworden. Doch jeder Versuch, ohne ausdrückliche Anweisung aus Recklinghausen zu handeln, hätte unweigerlich ein Disziplinarverfahren für ihn zur Folge gehabt. Daran hatte der Einsatzleiter keinen Zweifel gelassen. Als Kirchner ihm am Morgen vorschlug, die Bank mit einem gepanzerten Mercedes zu stürmen, um das Ganze zu beenden, hatte dieser geantwortet:»Sie und Ihre Cowboy-Methoden, Kirchner. Kommt nicht in Frage. Wenn Sie das tun, sind Sie dran!«
    Kirchner beobachtete durch die Lamellen, wie ein roter Luftballon zwischen den Schornsteinen ruckelnd über die Dächer hinweg in den honigfarbenen Himmel aufstieg, rasch an Höhe gewann und kleiner wurde. Bei dessen Anblick kam ihm der Gedanke, Claudia, seine geschiedene Frau, in ihrem Büro in Münster anzurufen, um sich zu erkundigen, wie es ihrem gemeinsamen, inzwischen 16 Jahre alten Sohn Robert ging. Der Junge hatte als Achtjähriger Luftballons geliebt, und Kirchner sah im Geiste vor sich, wie er damals immerzu welche für ihn hatte aufblasen müssen, die der kleine Robert anschließend unermüdlich jauchzend durch die Zimmer gekickt hatte.
    Kirchner hatte den Jungen seit mehr als zwei Monaten nicht mehr gesehen. Und seit er eine Freundin hatte, die gerade mal 13 Jahre älter war als Robert, war das Verhältnis zwischen ihnen zusätzlich gespannt. Offenbar witterte der Junge darin eine Art zweiten Verrat an seiner Mutter. Zudem glaubte er sich wohl um Gefühle betrogen, die eigentlich ihm zustanden. Jedenfalls interpretierte Kirchner so die schroffe Ablehnung seines Sohnes.
    Robert hatte nie aufgehört, ihm die Schuld am Scheitern der elterlichen Ehe zu geben. Vor die Wahl gestellt, zu welchem Elternteil er ziehen wolle, entschied Robert sich, ohne zu zögern, für seine Mutter. Jahrelang hatte Kirchner versucht, die Zuneigung des Jungen zurückzugewinnen, indem er ihm ein Hercules-Mofa und später eine teure Pioneer-Stereoanlage kaufte, damit er seine AC/DC-Platten, die er damals so mochte, in bestmöglicher Qualität hören konnte. Bis er begriff, dass er die Liebe seines Sohnes nicht kaufen konnte, und er ihn stattdessen ins Kino und zum Fußball einlud. Doch der Junge war auch damit nicht zu gewinnen, blieb wortkarg und unzugänglich. Irgendwann gab er es auf, um die Liebe seines Sohnes zu buhlen. Fortan wurden die Abstände, in denen sie sich trafen, immer größer. Manchmalverstrichen Monate, ohne dass sie sich sahen oder auch nur ein Wort am Telefon miteinander sprachen.
    Kirchner griff zum Hörer und wählte die Nummer seiner Exfrau. Als auf der anderen Seite abgenommen wurde, sagte er angespannt: »Ich bin’s.« Auch sein anschließendes »Hallo, Claudia, wie geht es dir?« klang angestrengt.
    Seine Exfrau hatte als Englischlehrerin an einem Gymnasium in Münster gearbeitet, sich aber kürzlich in die Verwaltung der Schule versetzen lassen. Nachdem sie eine Zeitlang die üblichen Eingangsfloskeln ausgetauscht hatten, sagte seine Frau: »Wann war Robert eigentlich das letzte Mal bei dir?«
    »Warum?« Er wusste genau, was nun folgen würde.
    »Kannst dich nicht mal mehr daran erinnern, wie?«
    Kirchner hasste es, wenn der zunächst lässige Plauderton seiner Exfrau unversehens ins Vorwurfsvolle umschlug und er sich ihr gegenüber wieder in jener

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