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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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nachdem sie zufällig zwei Wochen zuvor in einem Kino in Massachusetts »Das China-Syndrom« mit Jane Fonda, Jack Lemmon und Michael Douglas gesehen hatten, in dem ein fiktiver Störfall in einem US-Kraftwerk und die anschließend einsetzenden Mechanismen staatlicher Vertuschung bis hin zum Mord beschrieben wurden, plötzlich ziemlich befremdlich gewirkt und schlagartig die Fluchtinstinkte des Kriegsreporters in ihm geweckt.
    Martin drängte sie damals nach der ausführlichen Lektüre der Artikel zur raschen Abreise, denn er traute den Dementis, wonach eine Explosion und ein damit unkontrollierbares Entweichenvon radioaktivem Dampf in die Umwelt in letzter Minute verhindert worden sei, nicht.
    »Von Harrisburg bis nach New York sind es höchstens 250 Kilometer!«, sagte er damals immer wieder beschwörend zu ihr. »Wir sollten von hier verschwinden. Denn wenn wirklich Dampf freigesetzt wurde, und davon muss man bei dem, was ich zwischen den Zeilen lesen kann, ausgehen, hat ihn der Wind längt hierhergeweht! Oder willst du vergiftet werden und Krebs kriegen? Was amerikanische Dementis wert sind, wissen wir spätestens seit der Ermordung Kennedys!«
    Martin wirkte dünnhäutig und reizbar, als hätte das, was er in der Zeitung gelesen hatte, kleine Explosionen in seinem Innern ausgelöst und seine bis dahin unterdrückten »amerikanischen Bedenken«, so nannte er das, schlagartig ungebremst freigesetzt. Die Journalistenkrankheit holte ihn Tausende Kilometer von zu Hause entfernt wieder ein, jene grundsätzliche und gegen alles und jedes gerichtete Skepsis, die bis zuletzt den Grundbass all seiner Reportagen und Berichte aus dem Libanon oder von sonst woher bildete.
    Brigitte verharrte länger bei einem Bild, das Martin sonnengebräunt in einer ärmellosen olivgrünen Daunenweste zeigte, wie er, mehrere Kameras umgehängt, in die tiefstehende südamerikanische Sonne blinzelte. In den diversen kleineren oder größeren Brusttaschen waren die Agfa-Filmrollen zu erahnen. So, in der Pose des furchtlosen und zu allem entschlossenen Einzelkämpfers, hatte er sich selbst am liebsten gesehen: ein Mann auf der Suche nach der Wahrheit im Dickicht aus Lüge, Verschleierung, Vertuschung und politischer Willkür.
    Brigitte steckte sich eine neue John Player an, inhalierte tief und blies den Rauch gegen das Foto. Das Schöne an der Erinnerung ist, dass sie das Erlebte verändert, manches verklärt und uns milde stimmt, dachte sie, als in ihre Gedanken hinein das Telefon in der Diele läutete. Das Schlimme aber ist, dass mancheErinnerung nie verblasst und uns auch nach Jahren weiter quält.
    »Dummer Junge!«, murmelte sie und schob das Foto gemeinsam mit den anderen in die Agfa-Schachtel zurück, drückte den Deckel darauf und lief in die Diele.
    »Ich weiß, ich darf dir mit solchen Sachen eigentlich nicht kommen, liebe Brigitte«, sagte Helga Abraham mit einer Dringlichkeit, wie Brigitte sie lange nicht mehr gehört hatte. »Aber das solltest du dir ansehen. Da haben zwei Männer eine Bank überfallen und Geiseln genommen, und nun spielen sie mit der Polizei Katz und Maus. Und das Fernsehen ist live dabei. Du denkst, du siehst ’n Krimi, dabei passiert das gerade jetzt tatsächlich irgendwo in Bremen. Einfach unglaublich! Und irgendwie schrecklich.«
    »Ich habe ein Problem mit den Wasserleitungen oder den Heizungsrohren, dauernd höre ich so ein komisches Klopfen«, erwiderte Brigitte so ungerührt, als hätte sie Helga Abrahams Worte überhaupt nicht gehört (denn das, was sie in der Wanne liegend über diese Geiselsache gehört hatte, war bereits mehr als genug gewesen).
    Nach Martins plötzlichem Tod hatte Brigitte sich auf ihren eigenen kleinen Planeten zurückgezogen, hatte sich von allem und jedem wegdriften lassen, Freundschaften einseitig beendet, familiäre Kontakte auf ein Minimum heruntergefahren, die Verbindung zur Außenwelt mehr oder weniger gekappt und ihre Wunden länger geleckt, als ihr, wie sie irgendwann feststellen musste, guttat. Ihr einst grenzenlos erscheinender Vorrat an Jahren war bestürzend geschrumpft, und manchmal, wenn sie in der Badewanne lag, rauchte und durch die offene Badezimmertür Klänge von Josef Suks »Trauermarsch« in c-Moll für Streichorchester aus dem Wohnzimmer herüberwehten, machte ihr diese Tatsache Angst.
    Brigitte hatte seit Martins Tod keine wirkliche Beziehung mehr zu einem anderen Mann gehabt (und so kochte ihre Libidotrotz der kleinen Genüsse, die sie sich eigenhändig

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