Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
gegeben, ein Abkömmling vom Stamme der Nausithous zu sein, um sich auf der Stelle lautlos erheben und in sowohl klimatisch als auch psychisch förderlichere Breiten entschwinden zu können. Die kreischend über die glühend heißen Schienenstränge in Richtung Innenstadt dahinschlingernde Straßenbahn trieb ihn unaufhaltsam dorthin, wo solche Gedanken keine Rolle spielten.
Hans-Jürgen Rösner schob seine Freundin in den H&M-Laden und manövrierte sie zielsicher in die Männerabteilung, denn der Laden hier sah dem in Gladbecks Fußgängerzone, in dem er mit Vorliebe Klamotten geklaut hatte, zum Verwechseln ähnlich. Bei H&M war es jedes Mal ein Kinderspiel gewesen, an neue Sachen ranzukommen. In der Umkleidekabine hatte er einfach mehrere T-Shirts übereinander angezogen, die Sicherungsklipps abgerissen und in den Papierkorb geworfen, um anschließend ungeniert an den Verkäuferinnen vorbei nach draußen zu spazieren.
Bevor sie losgegangen waren, hatte er sich ein paar Hunderteraus einem der Notenbündel herausgezogen und in die Tasche gestopft. Das Gefühl, mal eben locker und ohne mit der Wimper zu zucken einen Hunderter für ein paar Klamotten hinblättern zu können, fachte seine Kauflust nun erst richtig an.
Entschlossen wie ein Goldsucher, der ruhelos nach der einzig in Frage kommenden Stelle Ausschau hält, an der er seinen Spaten in die Erde rammen soll, streifte er, gefolgt von Marion, die, eingehüllt in eine Wolke aus Achselschweiß und Estée Lauder, hinter ihm herlief, zwischen den Regalen und Drehständern umher, blieb stehen, warf einen Blick auf die Preisschilder der Hosen und Hemden und dachte grinsend: Wenn das hier vorbei ist, können die mich hier alle mal! Dann können sie all die Fetzen hier verbrennen! Denn dann trägt der Hansi nämlich nur noch Boss!
Er steuerte auf die Drehständer mit den T-Shirts zu, griff sich einen Schwung seiner Größe, ein ockerfarbenes trug den Aufdruck »Commander«, was ihn schmunzeln ließ, und lief damit zu den Kabinen. Als er in der engen, von einer Neonleuchte erhellten Kabine das verschwitzte T-Shirt auszog und auf den Boden warf, glitzerte der Schweiß auf seiner tätowierten Brust, auf der in schwarzblauen Lettern unter der verklebten Behaarung geschrieben stand: ICH HASSE EUCH ALLE.
Nachdem er an der Kasse bezahlt und sich, während die Kassiererin die Sicherheitsclips von den ausgewählten T-Shirts entfernte, in dem hoch oben an der Wand hängenden Überwachungsbildschirm erblickt und stolz studiert hatte, liefen sie hinaus in den stockend heißen Bremer Mittag. Immer wieder sah er sich prüfend um, doch er sah keine Polizei. Wie lange ließ man sie noch unbehelligt?
In Marions vollem, leicht glänzendem Gesicht suchte er nach der Antwort auf die Frage, wie es weitergehen sollte. In ihrem Haaransatz glänzte eine Schweißperle. Es war, als laufe nach den langen Stunden des Gejagtwerdens alles um sie her mit halberGeschwindigkeit ab, die Passanten bewegten sich wie hinter Milchglas, verschwommen und fern. Als gingen sie durch ein anderes Leben.
Thomas Bertram, der nie ein ängstlicher Typ gewesen war, spürte auf einmal, wie die Angst um seinen Sohn Buchstabe für Buchstabe vor seinem inneren Auge das Wort TOD zusammenzusetzen begann.
Es war das zweite Mal, dass der Tod in seine Nähe kam. Ein Tod, der sein Gesicht noch nicht zeigte. Beim ersten Mal war ein Klassenkamerad eines Wintermorgens auf dem Schulweg von einem Schneeräumfahrzeug erfasst und getötet worden. Bertram realisierte seinen Tod erst, als die brennende rote Kerze, die man zur Andacht auf das verwaiste Pult gestellt und angezündet hatte, von der kühlen, durchs gekippte Fenster hereindringenden Winterluft ausgeblasen wurde und aus mehreren Mündern ein erschrockenes »Oh!« zu hören gewesen war.
Bertram hatte damals eine Zeitlang versucht, an Gott zu glauben, indem er die Augen schloss und sich, wie auch sonst in Momenten innerer Not, einen gütigen alten Mann mit langem wallendem Umhang und einem schneeweißen Bart vorstellte, der die Geschicke der Welt von dort oben aus lenkte und ihn erhören möge. Doch sooft er ihn in Gedanken anrief, so regelmäßig musste er feststellen, dass der Anschluss besetzt war und alles so weiterlief wie bisher. Bis er schließlich aufhörte, an den Mann mit dem weißen Bart zu glauben und sein Heil anderenorts zu suchen begann.
Auch später gab es nie mehr einen Gott in seinem Leben. Nur die Hoffnung, die sich manchmal erfüllte – und
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