Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
verschaffte, auf Sparflamme), und das Kind, das Martin sich immer von ihr gewünscht hatte, hatten sie nie bekommen. Was blieb, waren die kleinen, wiederkehrenden Glückszustände, die sie mit der Intensität eines leichten Stromschlags durchfuhren, wenn sie sich durch Mireilles Welt bewegte.
So hauste sie inzwischen seit geraumer Zeit auf ihrem Ein-Mensch-Planeten, freiwillig abgekoppelt vom Rest der Welt. Bis zu jenem heißen Mittwochmittag im August, als gegen 14 Uhr 43 (das zeigte die Herduhr in der Küche) wieder jenes rätselhafte Rumoren ihr Ohr erreichte und die Wirklichkeit nach ihr zu greifen begann. Gewillt, dem Spuk nun ein Ende zu machen, erhob sich Brigitte vom Tisch ihrer dämmrigen Küche und folgte dem Geräusch, das, vage geortet, aus südwestlicher Richtung zu kommen schien.
Sie ergriff die beiden Enden des Gürtels ihres seidenen Morgenmantels und band sie vor dem Bauch zu einer Schleife zusammen. Dann nahm sie ihre Sonnenbrille vom Kühlschrank und setzte sie auf, lief zur Haustür, drehte den Schlüssel im Schloss und steuerte entschlossen auf die Garage zu.
***
Der stabile Antizyklon, der Wochen zuvor, vom Atlantik herkommend, nach Europa vorgedrungen war, hatte es sich über Westdeutschland bequem gemacht und leitete seither beharrlich sämtliche schlechtes Wetter mit sich führenden Zyklone nach Norden um.
Die Windstärke lag konstant bei null, und seit Tagen herrschten von der Kölner Bucht bis in den Bayerischen Wald tropische Temperaturen bis zu 38 Grad Celsius.
In den niedrigen Breiten war eine bemerkenswert starke Ozonzunahme festzustellen gewesen. Die Stickoxide, die durch Verbrennung fossiler Brennstoffe und auch durch Biomasseverbrennungfreigesetzt wurden, wirkten als Katalysator der Ozonbildung, was bodennah die Luftqualität so spürbar verringerte, dass Hans-Jürgen Rösner ein ständiges Kratzen im Hals verspürte, während er mit gesicherter Pistole im Hosenbund durch die kleine Geschäftsstraße in Bremen-Vegesack lief, an seiner Seite seine Freundin Marion. Seit über 20 Stunden hatte er das erste Mal das sichere Gefühl, die Polizei abgeschüttelt zu haben. Und von den Journalisten war im Moment auch keiner zu sehen.
Sie hatten Degowski mit den beiden Geiseln im Auto zurückgelassen und versprochen, spätestens in einer Stunde wieder zurück zu sein. Er hatte einfach mal rausgemusst aus der ganzen Situation, und was lag da näher, als einen kurzen Einkaufsbummel einzulegen und frische Klamotten zu besorgen. Die alten stanken bereits.
Zur gleichen Zeit saß in Köln Thomas Bertram in der fast menschenleeren und völlig überhitzten Straßenbahn der Linie 1 in Richtung Heumarkt, wo er, ausgelaugt und durchgeschwitzt, in die Linie 16 in Richtung Amsterdamer Straße umsteigen würde.
Bertram blinzelte in das auf Höhe des Stadions immer wieder zwischen den Bäumen hindurchbrechende Sonnenlicht und musste an den Danaus plexippus denken, der jedes Jahr Ende Oktober in riesigen Schwärmen von den USA aus zur Überwinterung in die mexikanische Sierra Nevada flog und dessen Ankunft in Michoacán mit dem Dia de los Muertos, dem Tag der Toten, zusammenfiel, an dem traditionell in Mexiko der Verstorbenen gedacht wurde. Schon vor der Ankunft der Europäer in Amerika symbolisierten die in Massen auftretenden Falter für die dort lebenden Ureinwohner die Rückkehr der Seelen ihrer Vorfahren.
Bertram, der eine Dokumentation über den Monarchfalter gesehen hatte, fragte sich, welchen Falter Pauls Seele sich wohl, sofern sie in dem Kampf unterlag, den sie in diesen Minutenauszufechten hatte, aussuchen würde, um später am Tag ihres Todes regelmäßig zu ihnen zurückzukehren und sie an ihren Verlust und ihre Schuld zu erinnern. Acherontia atropos vielleicht, der seinen dämonischen Namen der unverwechselbaren Totenkopfzeichnung verdankte, die seinen bulligen Rücken zierte? Oder doch eher Zygaena filipendulae, dessen blutrote Flecken auf blauschwarzem Grund bis an sein Lebensende durch seine Falterträume spuken und ihn an seinen frühen Tod gemahnen würden?
Bertram, der all die kleinen und großen und in ihrer Eigenart und Erscheinungsform so unglaublich vielfältigen Schmetterlinge bereits im Alter von neun Jahren unverbrüchlich in sein Herz geschlossen hatte, hätte in diesen von Hitze, Ungewissheit und Angst bestimmten Sekunden, in denen es in seinen erhitzten Schläfen lautlos pochte wie im Innern eines Alarmglases, das jeden Moment loszuschrillen drohte, manches dafür
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