Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
verantwortlich machten.
Chris sah in den Rückspiegel, setzte den Blinker und hielt am Bahnhof Nordstadt. Vor ihr standen zwei Kollegen bei ihren Wagen und unterhielten sich. Beide hatten wegen der Hitze die Türen weit aufgemacht. Chris stieß ebenfalls die Fahrertür auf, zog ihre Sonnenbrille aus der Seitentasche ihrer Jacke, setzte sie auf und stieg aus.
Auf dem Bahnhofsvorplatz hockte ein junger Mann in der prallen Sonne auf dem Boden und spielte »Heart of Gold« von Neil Young auf der Gitarre. Auf dem Kopf hatte er ein Papierschiffchen, wie sie Anstreicher manchmal bei der Arbeit trugen. Neben ihm kauerte ein hechelnder schwarzweißer Hund. In dem weißen Plastikbecher, der vor ihnen auf dem Boden stand, blitzten einige Münzen.
Plötzlich schossen, von der Sonne gebündelt, eine Handvoll Strahlen herab und sprengten den Hund in Fetzen. Erschrocken wandte sich Chris von der Halluzination ab und schloss die Augen. Als sie sie nach ein paar Sekunden wieder öffnete, waren der Mann und der Hund verschwunden.
Als sie ein paar Minuten später die Schachtel mit den Baldriantabletten öffnete, fiel ihr auf, dass sie bereits sieben Stück geschluckt hatte.
Immer schon war Chris auf der Suche nach einem eigenen Leben gewesen. Auf ihrem Weg dorthin war sie in die Leben anderer geraten und hatte sich früher oder später darin verirrt. Wenn sie sich auf ihre Gefühle verließ, kam sie schnell in neue Schwierigkeiten. Darum hatte sie eines Tages beschlossen, niemanden mehr an sich heranzulassen. Dann war sie Klaus begegnet, der sie mit Einfühlsamkeit und Geduld geöffnet hatte wie eine widerspenstige Auster. Das war zweieinhalb Jahre her, und Klaus war am Ende ebenso plötzlich aus ihrem Leben verschwunden,wie er es betreten hatte. Er hatte Nähe eingefordert und sich nach dem Überfall über ihre Verschlossenheit beklagt. Doch als sie dann endlich bereit war, sich ihm mit all ihren Ängsten und Dämonen zu öffnen, da hatte er so viel Nähe nicht ausgehalten und war gegangen.
Die beiden Wagen, eben noch vor ihr in der Reihe, hatten Kundschaft geladen und waren verschwunden. Die nächste Tour gehörte ihr.
***
Er steuerte den Wagen in Richtung Lemwerder über die Lilienthaler Heerstraße zur A27, fuhr aber, als er am Straßenrand eine Telefonzelle sah, bereits nach wenigen Minuten rechts ran und stieg aus. Er wollte sein eigenes Telefon für Anrufe freihalten.
In der aufgeheizten Zelle stank es, wie nicht anders zu erwarten, nach Urin. Über dem Telefonautomaten hatte jemand ein Hakenkreuz in die Metallverschalung geritzt und daneben geschrieben: »Mein Kampf ist noch nicht zu Ende.« Sämtliche Telefonbücher waren aus den Halterungen gerissen und lagen zerstoßen und verdreckt auf dem Boden.
Peter Ahrens hielt mit dem Fuß die Tür auf, um frische Luft hereinzulassen, drückte den klobigen schwarzen Hörer ans Ohr, schob die Münzen in den Schlitz und wählte die Nummer der Altstadt-Apotheke.
»Ich bin’s«, sagte er, als am anderen Ende die Stimme seiner Frau erklang. »Ich hab Freiwald angerufen. Ich soll die Geiselsache übernehmen. Hier in Bremen.«
»Und was ist mit der Sache in Papenburg?«, erwiderte seine Frau. »Die erwarten dich doch.«
»Mit denen hab ich gesprochen, das muss jetzt einfach warten«, sagte Ahrens und beobachtete, wie ein Hund neben seinem Wagen stehen blieb, das Bein hob und gegen die Radkappe pinkelte.
»Mach bloß kein dummes Zeug, Peter. Hörst du?«
»Du kennst mich doch, keine Sorge«, antwortete Ahrens und blickte dem Hund hinterher, der gemächlich davonlief. Dann legte er auf, warf einen Blick auf die vollgepinkelte Radkappe, stieg in seinen Wagen und nahm den Zubringer zur A27. Doch bevor er nach Vegesack fuhr, wo sich die Geiselgangster – das hatte er im Radio gehört – im Moment aufhielten, wollte er noch bei seinem alten Schulfreund Heiner Werkler, der einen Fotobuch- und Postkartenverlag besaß, in der östlichen Vorstadt vorbei, um mit ihm letzte Details einer geplanten Postkartenserie zu besprechen.
Ahrens musste an den Satz denken, den er Perry Kretz vor Jahren einmal in einem Interview hatte sagen hören und den er seither jedes Mal zitierte, wenn er danach gefragt wurde, weshalb er lieber aufgebrachte Demonstranten fotografiere statt Stars oder Politiker: »Weil es mich immer dahin gezogen hat, wo das Leben aus den Fugen geraten war. Abseits geordneter bürgerlicher Verhältnisse.«
Peter Ahrens lenkte den Wagen über die Autobahn in Richtung Cuxhaven
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