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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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die aufgeregte, laute Stimme seiner Großmutter vernahm und freiwillig sein kleines Gefängnis verließ.
    Manchmal konnte er trotz der Tag und Nacht geschlossenen kleinen Luke hoch oben an der Speisekammerwand, in der dann und wann ein Wolkenfetzen vorbeisegelte oder ein stahlblaues, schuhkartongroßes Himmelsquadrat leuchtete, gedämpft das ausgelassene Schreien der unten vor dem Haus auf der Straße Rollschuh laufenden Kinder hören. Dann schloss sich in seinem Magen schmerzhaft eine kleine Faust, und der damals Achtjährige ließ seinen Tränen freien Lauf.
    Später war er einmal trotz des ausdrücklichen Verbots der Großmutter in einem unbeobachteten Moment hinunter in den dunklen, modrig riechenden Keller gegangen, hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und mit zitternden Fingern den schwergängigen uralten Drehlichtschalter betätigt.
    Alte Schränke, rostige Sprungrahmen, Kisten und ein Haufen schwarzschimmernder, vor ihm auf dem Boden liegender Briketts waren im milchigen Schein der schwach leuchtenden Deckenlampe aus der Schwärze aufgetaucht. In den Regalen standen zahllose verstaubte Gläser mit eingemachtem Obst. Ängstlich hatte er seinen Blick da- und dorthin springen lassen. Bis er plötzlich im Glas eines an der Wand lehnenden alten Fensterrahmens die Umrisse eines anderen gespiegelt zu sehen meinte und erschrak.Doch als er mutig näher an die Glasscheibe herantrat, mit dem Ärmel den Staub und die dicken Spinnweben wegwischte und begriff, dass er selbst es war, den er dort sah, fiel er erleichtert auf die Knie und flüsterte: »Von jetzt an kann mir nichts und niemand mehr Angst einjagen.«
    Wenn er später mit entsicherter Dienstwaffe in einen Nachtclub eindrang oder gemeinsam mit Kollegen ein observiertes Haus stürmte, musste er manchmal an die Augenblicke im Keller der Großmutter denken. Sie hatten damals sein Leben verändert und ihm, das begriff er erst später, die entscheidende Richtung gegeben.
    Rolf Kirchner stand wieder im Besprechungsraum und studierte die von den Kollegen erstellte Grafik.
    Mit einem schwarzen Filzstift war auf dem hellen, an einer Tafel angebrachten Papierbogen als dunkle Hauptader die A1 eingezeichnet, daneben waren in Form roter nummerierter Kreise die Stationen Gladbeck (1), Dortmund, Schwerte, Münster, Hagen (2), die Raststätte Dammer Berge (3) und als vorläufig letzter roter Punkt Bremen (4) markiert. Doch was kam dann? Holland? Hamburg? Oder zog es Rösner, der das Kommando führte, womöglich dorthin zurück, wo alles begann? Nach Gladbeck? Nein, so dumm konnte der Mann bei aller Beschränktheit nicht sein.
    Robert hatte ihn einmal gefragt, ob er Angst habe, eines Tages jemanden mit seiner Dienstpistole erschießen zu müssen? Er hatte damals nicht lange überlegt, dem Jungen eine Hand auf die Schulter gelegt und geantwortet: »Ja, das habe ich. Und ich hoffe, dass es nie so weit kommt.«
    Mit Blick auf die Grafik, die ihn an eine ansteigende Fieberkurve erinnerte, dachte er: Angst habe ich immer noch. Natürlich. Doch wenn ich das Leben der Geiseln retten könnte …
    ***
    Sie drehte auf beiden Seiten die Fensterscheiben herunter. Dann legte sie den Sicherheitsgurt an, schob den Schlüssel ins Zündschloss, ohne ihn umzudrehen, und ließ den Kopf gegen die Nackenstütze zurücksinken. Dabei schloss sie die Augen.
    Sie war zurück, endlich, nach über vier Monaten, und fast so aufgeregt wie an dem Tag, als sie im Verkehrsamt die Führerscheinprüfung zur Fahrgastbeförderung abgelegt hatte. Sie sog den leicht salzigen Geruch des Leders ein. Alles war so vertraut. Das leise, kaum vernehmbare Ticken der Uhr im Armaturenbrett, das kurze Schnarren, das erklang, wenn der Minutenzeiger weitersprang. Und auch das aufgeraute Leder des Schaltknüppels, um den sie ihre Hand gelegt hatte. Alles.
    Chris Mahler machte die Augen wieder auf, schaltete die Funkanlage ein, knipste die Hungerleuchte an, die ihre Fahrbereitschaft signalisierte, und griff nach dem hinter die Sonnenblende geklemmten Quittungsblock. Ein Kugelschreiber steckte zwischen den Lamellen des kleinen Belüftungsschachts oberhalb des Radios. Der Tourenblock und der Stadtplan lagen im Handschuhfach.
    Und nachdem sie, wie um sich ihrer Anwesenheit noch ein letztes Mal zu versichern, das Pfefferspray, die schwarze speckige Geldbörse und ihre in der Mittelkonsole liegenden Fahrzeugpapiere berührt hatte, ließ sie den Motor an, legte den ersten Gang ein und lenkte den Wagen entschlossen vom Hof.
    Sie

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