Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
den hauseigenen Aufzug nahm, in dem er wegen eines Getriebeschadens stundenlang festsaß.
Es hatte in Hans-Jürgen Rösners Leben einmal eine Zeit gegeben, in welcher die Kompassnadel durchaus in eine andere Richtung hätte ausschlagen und ihm womöglich damit den Weg in eine andere Zukunft hätte weisen können. Die Leiterin des Kindergartens in der Tunnelstraße hatte ihn seiner stillen braunen Augen wegen auf Anhieb in ihr Herz geschlossen. Und als er die erste Klasse der Albert-Schweitzer-Schule in Ellinghorst besuchte und sich trotz bald auftretender Schreib- und Rechenschwäche als phantasievoller Junge erwies, der im Zeichenunterricht geheimnisvolle dunkle Bilder malte, deutete nichts auf seine kriminelle Entwicklung hin.
Als Achtjähriger träumte er davon, einmal Autos zu bauen und später den schneeweißen Mercedes 300 SEL zu fahren, den er aus dem Autoquartett seines Freundes Dieter kannte. Hans-Jürgen liebte Autos und konnte selbst aus großer Distanz einen Opel Rekord kinderleicht von einem Ford Taunus unterscheiden, einen Borgward Isabella von einem V W 1600. Sein Vater nahm ihn damals mit in seine Stammkneipe, das Roseneck, wo er den Jungen seinen Saufkumpanen vorführte wie ein dressiertes Äffchen. Als er elf geworden war und erlebte, wie man seinen Vater vor die Tür setzte, weil er ein paarmal zu oft betrunken auf der Baustelle erschienen war, beschäftigte ihn bloß noch die Frage,wie man an Geld herankam, ohne sich dafür, so wie sein Vater, jahrzehntelang kaputtschuften zu müssen.
»Hoffentlich baut der Dieter kein’ Scheiß«, sagte Marion mit einem kurzen Flackern in der Stimme und leerte ihren Kaffee.
»Der hat das im Griff«, antwortete Rösner knapp. Dabei versuchte er sich vorzustellen, wie es Reinhold und Andrea ging. Andrea hatte im Wagen einen ziemlich verzweifelten Eindruck gemacht. Aus diesem Grund hatte er sie ein paarmal aufmunternd angelächelt, wenn ihre Blicke sich zufällig im Rückspiegel trafen. Am liebsten hätte er sie und Reinhold schon in Hagen wieder rausgelassen, damit sie nach Hause kamen zu ihren Familien. Später, wenn alles vorbei war, würde er ihnen eine Karte von den Malediven schreiben.
»Scheiße, auch das noch!«, sagte Marion und streckte ihm ihren rechten Zeigefinger hin.
»Was is Scheiße?«, fragte Rösner, ohne sie anzusehen, und schnippte den Stumpen einem Passanten vor die Füße.
»Na hier, der schöne Nagel«, antwortete sie, ganz auf ihren Finger konzentriert. »Total eingerissen.«
»Selbst schuld, blöde Kuh«, erwiderte Rösner, tastete nach der am Rücken im Hosenbund steckenden Pistole und griff die Einkaufstüte von H&M. »Los, zurück zum Wagen.«
7
Neue Rhein Zeitung
Gladbeck: Brutale Gangster flüchten mit zwei Geiseln –
Polizei übergab 300
000 Lösegeld und Tresorschlüssel
Bei einem dramatischen Überfall auf eine Filiale der Deutschen Bank in Gladbeck haben zwei Gangster gestern früh zwei Bankangestellte als Geiseln genommen. Nach der dramatischen Aktion flohen die Täter am späten Abend mit zwei Geiseln in einem bereitgestellten schnellen Fahrzeug.
Thomas Bertram sprang aus der Straßenbahn, überquerte die Amsterdamer Straße und lief in schnellen Schritten in Richtung des grauen, sich rechts und links jeweils in kleinere Anbauten fortsetzenden Kinderkrankenhauses. Bei jedem Schritt klapperte der Walkman in seiner Sakkotasche. Warum zog er das Sakko denn nicht endlich aus?
Die Hitze des Tages pochte in seinen Schläfen, und sein Hemd war am Rücken durchnässt und klebte bei jeder Bewegung unangenehm auf der Haut.
Am Pförtner vorbeigehend, der eine aufgeschlagene Bildzeitung vor sich liegen hatte, entzifferte er, trotz der auf dem Kopf stehenden Buchstaben die leuchtend rot und fettgedruckten Worte »Drama« und »Geiselgangster«. Über den Flur eilte er zu Aminas Zimmer.
»Na, endlich«, rief sie, als er im Türrahmen stand, und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dunkle Falten hatten sich in die Haut gegraben.
»Wie geht es ihm?«, sagte Bertram und legte seine Aktentasche aufs Bett. Er fühlte sich matt und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Wasser, dachte er, ich brauche dringend etwas zu trinken.
»Sie operieren seit ein paar Minuten. Sie wollen verhindern, dass es zu einem Darmdurchbruch kommt. Ich habe solche Angst.«
»Es wird alles gut«, erwiderte er und schloss sie in die Arme. Er sog den leicht säuerlichen Geruch ihrer warmen Haut ein, roch ihr Haar, in das er sein
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