Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
fädelte sich in den um diese Uhrzeit nicht sehr dichten Verkehr ein, klappte die Sonnenblende herunter, wobei ihr der Quittungsblock in den Schoß fiel, und steuerte den Wagen in Richtung Bahnhof.
Zum Fenster wirbelte die warme Luft herein und fuhr ihr in die Haare. Sie war wieder dabei, zurück in der Familie. Denn in gewisser Weise bildeten die anderen Kollegen und Kolleginnen, die ebenfalls für Benioff fuhren, eine Art Familie für sie. Einige hatten sie, im Gegensatz zu ihrem Vater, angerufen, nachdemsich herumgesprochen hatte, was ihr zugestoßen war, und ihr Mut zugesprochen und sie beschworen, nicht aufzugeben.
»Du sollst zurückkommen«, hatte ein jüngerer indischer Kollege namens Umesch in gebrochenem Deutsch am Telefon zu ihr gesagt und sie mit seinen Worten tatsächlich aufgemuntert.
Die Fahrer und Fahrerinnen trafen sich regelmäßig vor und nach ihren Schichten im Kroneneck, doch zuletzt hatte Klaus ihr immer häufiger vorgeworfen, sie interessiere sich nur noch für ihre Fahrerei. Anfangs versuchte sie ihm zu erklären, weshalb ihr das Zusammensein mit ihren Kollegen so wichtig war, gab es aber irgendwann frustriert auf.
Chris folgte dem Breitenweg. Als sie am Bahnhof ankam, sah sie, dass dort bereits mehr als ein Dutzend Kollegen auf Kundschaft warteten, zog den Wagen kurzentschlossen auf die linke Spur und gab Gas.
Sie drückte den Knopf der Funksprechanlage, pustete kurz prüfend ins Mikrophon und sagte: »Zwodoppelvier an Zentrale. Bin auf der Daniel-von-Büren-Straße und fahre in Richtung Bahnhof-Nordstadt.«
»Verstanden, Zwodoppelvier«, erwiderte der Kollege in der Zentrale.
Chris liebte das ruhelose Hin und Her der Funksprüche zwischen der Zentrale und den einzelnen Wagen, dieses unablässige Gebrabbel und Krächzen und Knacken. Manche Kollegen schalteten die Anlage stumm oder wechselten auf einen anderen Kanal, um eine Zeitlang ungestört zu sein. Ihr dagegen vermittelte das Stimmengewirr das Gefühl, dabei zu sein, teil an dem zu haben, was auf Bremens Straßen passierte. Dazuzugehören. Ein Gefühl, das ihr Vater ihr nie hatte geben können.
Leo Mahler war immer ein Eigenbrötler gewesen, abweisend und unzugänglich, einer, der die Gefühle anderer erst wahrzunehmen begann, wenn sie ihm zu nah kamen und er sie abwehren musste. So hatte er auch die Zuneigung seiner Tochterso lange konsequent abgewehrt, bis sie irgendwann aufhörte, ihn zu lieben. Inzwischen war er ihr egal.
Er schien sich nur für seine alten Kriegsfotos und Postkarten zu interessieren. Im Keller auf der alten JOOLA-Tischtennisplatte, die einmal besseren Spielen gedient hatte, türmten sich, neben zahllosen Konserven, deren Haltbarkeitsdatum zum größten Teil abgelaufen war, sowie den verstaubten, in zwanzig Jahrgängen vollständig erhaltenen Monatsschriften des Oldenburger Angelvereins »Reetkiekers«, dessen erster Vorsitzender er über mehr als zwei Jahrzehnte hin gewesen war, die Alben und Ordner mit den von ihm zusammengetragenen Bildern und Karten.
Chris hatte keine Erklärung für die Begeisterung ihres Vaters für Feldpostkarten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und verstand nicht, was ihn dazu brachte, sich auf der Suche danach bei Schnee und Regen auf zugigen Flohmärkten herumzutreiben.
Was wollte ihr Vater mit diesen Postkarten? Was bezweckte er mit seiner Sammelei? Bei ihrem letzten Besuch in Oldenburg war ihr bei der Suche nach ihren alten Schallplatten im Keller eine Kriegspostkarte in die Hände gefallen. Sie musste sich aus einem der auf der Tischtennisplatte liegenden Alben gelöst haben oder war dem Alten entglitten und unbemerkt zu Boden gefallen. Die Karte war aus dem Jahr 1915 und zeigte einen sterbenden deutschen Soldaten, an dessen Seite ein Kriegskamerad wachte. Im Hintergrund war eine kleine, einsame Ortschaft in Frankreich zu sehen.
Chris hatte die Karte lange irritiert angesehen und schließlich in eines der Alben zurückgelegt. Später, als sie im Zug zurück nach Bremen saß, musste sie wieder an den Verwundeten denken, einen von seinem Kameraden gestützten Soldaten, der seine Hände wie zum Beten gefaltet hielt. Der vom nahen Tod verklärte Blick des Verletzten hatte sie gerührt, aber gleichzeitig auch geärgert. Denn während es den toten und verwundeten Soldaten auf all den Fotos und Postkarten offensichtlich gelang, ihrem VaterMitgefühl und Bewunderung abzuringen, glich ihr Umgang miteinander dagegen längst dem zweier Opfer, die einander für die eigene Verbitterung
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