Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
sehen.
Degowski stieß die Wagentür auf, schob langsam das rechte Bein hinaus und ließ Andrea dabei nicht aus den Augen: »Ich muss mal kurz raus. Wenn ihr was versucht, knallt’s, verstehste? Ich seh alles, kapiert?«
»Ja, ja, keine Angst«, erwiderte die junge Frau kraftlos und suchte Reinholds Blick, der reglos auf dem Beifahrersitz verharrte. Längst war sie viel zu erschöpft, als dass sie auch nur einen Gedanken an eine mögliche Flucht verschwendet hätte.
»Ich seh alles, verstehste?«, wiederholte Degowski, der inzwischen gebeugt an der offenen Wagentür stand und mit dem Colt auf ihren Bauch zielte. »Ich geh nur mal um die Ecke.«
»Keine Sorge, Dieter!«, rief Reinhold beschwichtigend durch das offene Seitenfenster nach hinten. »Alles okay.«
Degowski blickte sich nach allen Seiten um, dann schob er den Colt in seine Jackentasche und lief los, blieb aber schon nach ein paar Metern stehen, drehte sich um und rief erneut in Richtung Wagen: »Ich seh alles! Wenn ihr rauskommt, knallt’s!«
Wenn der Charlie mich jetzt bloß hier sehen könnte, o Mann, dachte er und ging weiter. O Mann, Charlie, du wärst vielleicht stolz auf mich.
Alles hatten sie zusammen gemacht, der Charlie und er. Von Anfang an. Sogar die Schultüte hatten sie sich geteilt. Beide hatten sie an ihrem ersten Schultag weiße Hemden und Sakkos getragen, Dieter ein blütenweißes, Charlie ein dunkelblaues, nachtblaue straffe Steghosen und spitze, schwarzglänzende Schuhe, genau wie Elvis in seinen Filmen, o Mann, hatten sie damals gut ausgesehen.
Das Schwarzweißfoto, das am Tag ihrer Einschulung von ihnen gemacht wurde, stand jahrelang gerahmt im Wohnzimmer ihrer Ellinghorster Wohnung auf dem Buffet. Bis es eines Tageseinfach verschwunden war. Genau wie seine Mutter, die das dreckige Geschirr so lange in der Badewanne stapelte, bis sie beim Brausen kaum noch Platz zum Stehen hatten.
Charlie war sein ein Jahr älterer Bruder. Sie hörten dieselbe Musik damals, im Roseneck. Immer wieder »Dandy« und »Death of a Clown« von den Kinks, und »Surfin’ USA« von den Beach Boys. Und viel später »Waterloo« und »Money, Money, Money« von Abba. Gemeinsam rauchten sie ihre erste Zigarette, und auf dem Sportplatz hinter der Albert-Schweitzer-Schule ließ sich die verrückte Gela in der Dämmerung von ihnen betatschten.
Bis auf ihren Rock entkleidet, hatte sie sich im Gras liegend ihre Hände auf die nackten Brüste gelegt und zufrieden gestöhnt.
Später lauerte sie ihm ein paarmal vor dem Roseneck auf und bot ihm an, mit ihm alleine auf den Sportplatz zu gehen, wenn es dunkel würde. Doch er lachte sie aus Unsicherheit jedes Mal nur aus und ließ sie stehen. Dabei träumte er seit der Sache auf dem Sportplatz mit offenen Augen von ihren Titten und holte sich dabei einen runter. Da war Charlie schon tot, und der Hansi hatte angefangen, für ihn zu denken. Denn der konnte das viel besser. Der war einfach schlauer. Wo blieben die beiden überhaupt, der Hansi und die Marion?
»Cool bleiben, klar?«, sagte er, als er mit gezogener Waffe wieder zu den beiden in den Wagen stieg. Dann stopfte er die Jacke zwischen sich und die erschöpfte junge Frau auf den Sitz und richtete den Colt auf ihren Bauch. Er hatte keine Ahnung, was sie da eigentlich taten und wo das Ganze enden würde. Aber das musste er ja auch nicht. Hauptsache, der Hansi wusste es.
Doch er tat es auch für Charlie, seinen toten großen Bruder, der auf dem Friedhof Brauck im Schatten einer Trauerweide begraben lag, die ihn seit nunmehr zwölf Jahren im Herbst mit ihren sichelförmigen gelben Blättern beschneite.
***
»Geiselgangster auf der Flucht.« »Irrfahrt der Gangster durch die BRD.« »Gefilmt wie Stars der Tour de France.« »Das Geiseldrama geht weiter.«
Marc Steiner gingen die Schlagzeilen der ausliegenden Blätter am Zeitungskiosk an der Kinzigbrücke nicht aus dem Sinn. Allen voran die der Bildzeitung: »Geiselgangster kauften Buletten und drohten: Wir knallen die Geiseln ab.«
Im Deutschunterricht hatten sie einmal als Gegenstand einer Klausurarbeit eine Titelseite der Bildzeitung analysieren müssen, und Marc, der bis dahin als eher uninspirierter Schüler galt, schrieb zur Überraschung aller die zweitbeste Arbeit. Dabei hatte er im Grunde wild drauflos interpretiert, den graphischen Aufbau der Seite analysiert und als ausgeklügeltes Zusammenspiel von Wort und Bild beschrieben, das zudem geschickt mit Seh- und Lesegewohnheiten operiere und seine
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