Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
fallen und drehte den Hahn zu. Mit einem triumphierenden Blick auf ihre schmerzenden, aufgesprungenen, aber nicht mehr zitternden Hände wandte sie sich von ihrem Spiegelbild ab, umwickelte ihre Hände flüchtig mit Toilettenpapier und zog die Tür hinter sich zu.
Martin hatte sie einmal dabei überrascht, wie sie mitten in der Nacht vor dem Waschbecken stand und die Seife in ihren blutenden Händen hielt.
Zuerst glaubte er, sie hätte sich geschnitten oder sonst wie verletzt und reinige die Wunde unterm laufenden Wasser. Bis er begriff, was sie da machte. »Das ist keine Lösung, Brigitte. Such dir lieber professionelle Hilfe«, sagte er.
»Davon verstehst du nichts. Kümmere dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten, okay?«, war ihre Antwort gewesen. Da hatte er sich wortlos umgedreht und war zurück ins Bett gegangen.
Daran musste sie jetzt denken. Sie stand im Garten hinter der Thuja und blickte hinüber zum Pool, wo der Fremde unter der Dusche stand. Interessiert ließ sie ihren Blick über seinen nackten,muskulösen Körper wandern, als aus der Diele Telefonläuten zu hören war. Sie riss sich vom Anblick des Mannes los und lief ins Haus.
»Entschuldige, dass ich dich noch mal störe, aber das musst du dir ansehen, Brigitte«, erklang Helgas ungewöhnlich erregte Stimme. »Auf allen Kanälen läuft das Geiseldrama.«
»Nein danke, ohne mich«, entgegnete sie kühl.
»Ja, ja, ich weiß«, sagte Helga, »aber das hier ist wirklich etwas anderes.«
Früher war bei Brigitte den ganzen Tag das Radio an gewesen, BBC oder die Deutsche Welle. Und auch nach Martins Tod konnte sie es sich lange nicht abgewöhnen, gleich nach dem Aufstehen das neben der Kaffeemaschine stehende Radio anzudrehen, obwohl sie sich nicht mehr für das interessierte, was sie zu hören bekam. Als hätte sich mit Martins Tod der für Empathie zuständige Teil ihres Gehirns abgeschaltet, um sie vor weiteren Verletzungen zu schützen.
Früher, wenn Martin in einer Krisenregion unterwegs war, drehte sie immerzu zwischen den Sendern hin und her, um das Neueste aus dem Ogaden oder aus Beirut zu erfahren. Das war lange vorbei. Was draußen in der Welt geschah, ging sie nichts mehr an.
Zuerst war Martins Tod ein ständig pochender Schmerz gewesen, der sie um den Verstand zu bringen und gegen den es kein Mittel zu geben schien. Später war das Pochen zu einem in Intervallen auftretenden Brennen geworden, das manchmal für Stunden ihren ganzen Körper befiel. Bis irgendwann nur noch ein wiederkehrendes Stechen in der Brust oder in den Schläfen an seinen Tod erinnerte.
In ihren Träumen schrieb er ihr lange, herzzerreißende Briefe, in denen er ihr – anders als zu Lebzeiten – seine wahren Gefühle offenbarte.
In der ersten Zeit versuchte sie es mit Tabletten und Alkohol.Doch weil es ihr bald immer schwerer fiel, sich morgens an die Schreibmaschine zu setzen und einen klaren Gedanken zu fassen, leerte sie irgendwann sämtliche Weinvorräte in den Ausguss und warf die Tabletten in den Müll. Tagelang fühlte sie sich wie eine Drogenabhängige auf Entzug, lag die meiste Zeit apathisch mit dem Gefühl im Bett, einen Stummfilm anzuschauen, in dem eine Abrissbirne in ein Wohnhaus kracht. Oder sie lief im Wohnzimmer zu dröhnend lauten Klängen von Beethoven ruhelos auf und ab, bis sie erschöpft zu Boden sank und einschlief.
Jeden Morgen, den sie in der Gewissheit erwachte, dass Martin sie nie mehr ansehen, nie mehr mit ihr sprechen und sie nie mehr berühren werde, redete sie sich ein, dass es das Beste war, überhaupt keine Erwartungen mehr zu haben. Weder an sich noch an andere. Sie sagte sich: Wenn ich überleben will, muss ich aufhören zu hoffen.
Sie verlor den Kontakt zur Außenwelt. Treffen mit Freunden ging sie aus dem Weg, Einladungen wie etwa die ihres Bruders, ihn und seinen Sohn Marc in Hanau zu besuchen, schlug sie regelmäßig freundlich, aber bestimmt aus. Briefe ließ sie unbeantwortet. Und wenn einmal etwas auf einem Amt zu erledigen war, bat sie Helga, dies für sie zu tun. Das Einzige, was sie nach draußen führte, waren die Einkäufe, die sie dann und wann im nahen Supermarkt tätigte. Lediglich die regelmäßigen Telefonate mit Helga unterbrachen ihre Isolation. Bis sie eines Morgens (nachdem wieder einmal ihre Vorräte zu Ende gegangen waren) mit Blick auf die sich vor ihrer Haustür stapelnden ungelesenen Zeitungen überrascht feststellte, dass sie seit über drei Wochen nicht mehr vor der Tür gewesen war.
Wenn
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