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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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spontan von seiner Art, die Welt zu betrachten, angetan war, hatte sich aber zurückgezogen und ihre Gefühle vor sich selbst zu verbergen versucht, als Amina ihr eines Tages offenbarte, sie und Bertram seien nun ein Paar. Eines Abends, sie war auf dem Weg zur U-Bahn gewesen, waren sie sich zufällig über den Weg gelaufen, und Thomas hatte sie auf einen Drink in einen Club im Belgischen Viertel eingeladen. Am Ende waren sie in seinem Bett gelandet, und seither trafen sie sich ein-, manchmal zweimal die Woche und schliefen miteinander.
    Bertram erhob sich, legte ihr freundschaftlich und mit den Worten »Hallo Sirvan, wie geht es dir?« die Hand auf die Schulter und lief zu ihrer Verwunderung, ohne ihre Antwort abzuwarten, aus dem Zimmer. Er lief zur Toilette, wo er den Wasserhahn aufdrehte, die Brille abnahm, auf den Beckenrand legte und sich das kalte Wasser mit den zu einer Kuhle geformten Händen wieder und wieder ins Gesicht schaufelte. Nach ein paar Minuten fühlte er sich besser, die Haut im Gesicht spannte nicht mehr, und die Erregung war sekundenlang einer nüchternen Klarheit gewichen. Er drehte den Wasserhahn wieder zu, riss ein Papiertuch aus dem an der Wand angebrachten Spender und trocknete sich flüchtig das Gesicht. Anschließend polierte er die Gläser seiner Brille und setzte sie wieder auf. Zuletzt warf er die zerdrückte Papierkugel in den Abfallkorb, fixierte sich im Spiegel und zog die Tür auf.
    »Ach, hier bist du«, sagte sie und sah ihn überrascht an, als er die Tür aufstieß und sich ihr in den Weg stellte. Er roch den Vanilleduft, der von ihr ausging. Süß und verlockend drang er an seine Nase.
    »Ich bin auf der Suche nach einer Vase«, sagte sie mit Blick auf den Tulpenstrauß in ihrer Hand.
    »Die hier brauchen schleunigst Wa…« Er fasste sie am Arm und stieß mit dem rechten Knie die Toilettentür auf.
    »Thomas! Nein! Nicht hier.«
    »Komm«, flüsterte er, zog sie mit sich durch den Spalt und drückte ihr, als er hörte, wie hinter ihm die Tür zufiel, ungestüm einen Kuss auf die halbgeöffneten Lippen. Noch immer hielt sie die Tulpen umklammert. Sie erwiderte seinen Kuss und ließ den Strauß los, der mit einem Klatschen zu Boden fiel.
    »Thomas, ich bin, ich …«
    »Sirvan … Sirvan«, hauchte er, küsste sie erneut und tastete nach ihrer Schulter und schob den Träger ihres Kleides herunter.
    »Nein, Thomas, nicht …« Zärtlich schlang sie beide Arme um seinen Hals und sah ihm tief in die Augen. »Ich muss dir etwas sagen!«
    »Nicht jetzt!«, unterbrach er sie, schob den anderen Träger herunter, so dass ihr Kleid raschelnd zu Boden glitt.
    Als sie im Abstand von ein paar Minuten in Aminas Zimmer zurückkehrten (um keinen Verdacht zu erregen, hatte sie auf die Schnelle tatsächlich eine Vase besorgt), spürte Bertram noch immer den sanften, gleichwohl fordernden Druck von Sirvans Zunge an seinen Schneidezähnen. Wie eine Schlange, die sich geschickt zwischen Steinen dahinschlängelt, hatte sie sich in seinem Mund bewegt.
    Sirvan setzte sich neben Amina auf die Bettkante und sagte: »Also gestern habe ich was erlebt, das muss ich euch erzählen.« Dabei legte sie ihr freundschaftlich den rechten Arm um die Schulter und erzählte, dass sie im Agnesviertel, wo sie mit ihrerMutter in einem Café verabredet gewesen sei, Zeuge geworden sei, wie ein Mann im siebten Stock des AXA-Hochhauses offenbar aufs Balkongeländer geklettert sei, um sich das Leben zu nehmen. Rasch habe sich vor dem Haus eine Zuschauermenge gebildet, und nur wenig später sei bereits die Feuerwehr eingetroffen. Doch alle Versuche der Feuerwehrmänner, den Mann dort oben herunterzuholen oder von seinem Vorhaben abzubringen, seien gescheitert.
    »Zuerst waren es nur ein paar, aber dann hat die ganze Menge gerufen: Spring doch! Spring doch! Immer lauter und alle gleichzeitig im Chor. Daraufhin ist der Mann plötzlich vom Balkongeländer gestiegen und im Innern der Wohnung verschwunden.«
    »Das ist ja verrückt«, sagte Bertram und ging zu dem hinter einem Paravent verborgenen Waschbecken, um sich die Hände zu seifen, die noch immer nach Sirvan rochen.
    »Das war echt verrückt, wie die Feuerwehrmänner versucht haben, den Typ da oben runterzuholen. Am verrücktesten aber war«, fuhr sie fort, »dass ich mitgebrüllt habe, spring doch, spring doch, einfach so, ohne nachzudenken, bloß weil es alle gemacht haben. Erst als alles vorbei war und die Leute sich langsam zerstreuten, habe ich begriffen, was ich

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