Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)
sie sich an die Schreibmaschine setzte und das tags zuvor Begonnene wieder aufnahm, wenn sie durch ihre Worte in Mireilles Welt überging und sich nicht länger auf der Flucht vor ihren Dämonen fühlte, dann, nur dann hatte sie das Gefühl zu leben.
»Warum sollte ich mir ansehen, wie zwei Kriminelle die Leben anderer Leute aufs Spiel setzen? Ich habe genug mit mir selbst zu tun. Außerdem verlangt Mireille meine ganze Aufmerksamkeit«, sagte sie ganz ruhig und beobachtete, wie eine Amsel in der halbgeöffneten Tür schräg ins Bild trippelte und neugierig ihren Kopf in ihre Richtung drehte.
»Weil es für deine Arbeit wichtig sein könnte, darum«, sagte Helga.
»Zwei Verbrecher, die mit Pistolen herumfuchteln, ohne dass die Polizei etwas tut? Das soll für meine Arbeit wichtig sein?« Brigitte beobachtete ihren neugierigen schwarzgefiederten Gast.
»Ja«, sagte Helga Abraham unbeeindruckt von Brigittes Einwänden und spielte sogleich auf Mireilles steten Widerstand an, der am Ende die adlige französische Gesellschaft erschütterte. »Mit ihrer Aktion fordern sie die Gesellschaft und ihre Wächter auf eine Weise heraus, die neu ist. Und dass sie damit zu Medienstars werden, gibt dem Ganzen eine zusätzliche Dimension. Die schreiben Mediengeschichte, ohne es zu ahnen.«
»Von mir aus, Helga. Sollen sie nur, meinen Segen haben sie«, sagte Brigitte und bemerkte, wie sie mit Blick auf die Amsel, die sich weiter zu ihr vorgewagt hatte, die Lust an ihrem Telefonat verlor.
»Wie du meinst«, sagte Helga mit einem leicht gekränkten Unterton in der Stimme, »dann will ich nicht länger stören«, und legte auf. Im selben Moment wippte die Amsel kurz mit der Schwanzfeder, breitete die Flügel aus und flog davon.
Brigitte legte den Hörer auf die Gabel, zog den Stecker aus der Buchse und ging nach draußen. Der Fremde, der sein langes dunkles Haar zu einer Art Dutt zusammengebunden und sich das Handtuch wie eine Schürze um die Hüften fixiert hatte, lief barfuß um den Pool herum und steuerte auf das Haus zu.
Sie stellte sich dem Fremden, als er keine zwei Meter mehrvon ihr entfernt war, entschlossen in den Weg und sagte: »Haben Sie Hunger? Ich könnte uns ein paar Spiegeleier braten.«
Im Kölner Osten betrat eine junge, mit einem hellblauen Sommerkleid und dazu passenden hellblauen Pumps bekleidete Frau namens Sirvan Petrossian das Kinderkrankenhaus in der Amsterdamer Straße. Sirvan war im armenischen Gjumri in der Provinz Schirak geboren und trug den Namen ihres Vaters, obwohl der sie bereits ein Jahr nach ihrer Geburt und nur wenige Wochen nach der Heirat mit ihrer Mutter Anouche verlassen hatte. Sie nahm die Sonnenbrille ab, ließ sich vom Pförtner die Zimmernummer der Patientin Amina Wilkins sagen und lief, die Henkel ihrer Tasche lässig über die Schulter gelegt, in die ihr genannte Richtung.
Amina hatte sie angerufen und ihr erzählt, dass sie Mutter eines Frühchens geworden war. Kennengelernt und angefreundet hatten sich Amina und Sirvan während des gemeinsamen Studiums. Doch dann hatte Amina ihr Studium geschmissen und in einem Reisebüro angefangen.
Sirvan, die sich mit ihrer Freundin Saba, einer Sportstudentin aus Eritrea, eine Zweizimmerwohnung in Junkersdorf, nahe der Universität, teilte, hatte, seit sie die Märchen und Liebesgeschichten des Achoug, des in ihrer Heimat von Haus zu Haus ziehenden Geschichtenerzählers, gehört hatte, ein Faible für Liebesromane. Und weil sie glaubte, Amina könnte nach all den Strapazen ein wenig Ablenkung vertragen, hatte sie ihr am Hauptbahnhof einen Strauß roter Tulpen, eine Flasche Hohes C und in der Buchhandlung den ersten Roman von Marie Collier gekauft. Sirvan liebte Marie Colliers Mireille-Romane, seit sie ein anscheinend ungelesenes, achtlos im Speisewagen des Zuges nach Osnabrück liegengelassenes Exemplar von »Mireille – Vagabundin der Liebe« gefunden hatte. Noch im Zug, sie war unterwegs zu ihrer Mutter, begann sie zu lesen, und bis zu ihremEintreffen in Osnabrück konnte sie nicht mehr aufhören. Noch am Bahnhof in Osnabrück war sie in die dortige Buchhandlung gegangen und hatte die Fortsetzungen »Vanilleträume« und »Sie wollte zu viel« gekauft.
Als sie die Zimmertür aufstieß und Thomas Bertram, der neben Amina auf der Bettkante saß, sie überrascht ansah, dachte sie: Ich hätte nicht kommen sollen.
Sirvan war eine Zeitlang heftig in Bertram verliebt gewesen, nachdem sie ihm ein paarmal an der Seite von Amina begegnet und
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