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Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition)

Titel: Ein deutscher Sommer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Henning
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getan hatte, und mich geschämt.«
    ***
    Schon als Zwölfjähriger hatte Adam sich praktisch vor nichts und niemandem mehr gefürchtet. Nicht vor den Rüpeln und streitsüchtigen Raufbolden aus dem Sosnowitzer Arbeiterviertel Nikiszowiec, die ihn und seine Freunde immer wieder mit Zaunlatten schlugen, um ihnen ihre Sachen abzunehmen, bis Adam sie eines Tages mit dem uralten Unterhebelrepetierer seines Großvaters in die Flucht schlug. Und auch nicht vor seinem fünf Jahre älteren, geistesgestörten Cousin Kamil, der später in einem Irrenhausin Katowice verschwand, nachdem man ihn dabei erwischte, wie er eine Gans mit den Flügeln ans Scheunentor genagelt, das schreiende Tier anschließend mit Benzin übergossen und angesteckt hatte. Und auch nicht vor den Rockern aus, die auf ihren frisierten Maschinen nachts im Schritttempo durch Srodula fuhren, antijüdische Parolen an die Häuserwände schmierten und mit brennenden, in mit Benzin getränkten Tüchern eingewickelten Pflastersteinen die Fensterscheiben einwarfen. Als sein Bruder Karoly und er Wochen nach einem nächtlichen Angriff, bei dem sämtliche Scheiben ihres Wohnzimmers zu Bruch gegangen waren und die Vorhänge gelodert hatten, zufällig Zeugen wurden, wie sich einer der Rocker bei einem Unfall mit einem LKW schwer verletzte, da hatten sie triumphierend die Fäuste in Richtung des neben seiner Maschine auf dem Boden Liegenden geballt und gerufen: »Verrecke, du Schwein!«
    Der einzige Mensch, vor dem er sich bis zu dessen Tod ängstigte, war sein Vater gewesen, eine sehnige, einen Meter achtzig große Gestalt, die übermenschliche Kräfte zu haben schien. Einmal hatten sein Bruder und er mit angesehen, wie der Vater auf einem Rummelplatz einen Amboss hochstemmte. Ein andermal sahen sie zunächst staunend und schließlich betroffen mit an, wie er in einem Gasthaus in eine Schlägerei geriet und seine Gegner, betrunkene Arbeiter aus Nikiszowiec, mit irritierender Brutalität bewusstlos schlug.
    Als Adam sich einmal schutzsuchend vor seinen Verfolgern in das kleine Büro, das sich der Vater im Hinterhaus eingerichtet hatte, flüchtete, blickte der ihn scharf an und jagte ihn mit den Worten »Geh raus, und wehr dich!« zurück in den Hof.
    Daran musste Adam plötzlich denken, während der Bärtige mit der geladenen Pistole in der Hand keinen Meter von ihm entfernt in der offenen Einstiegstür stand und sich mit einem Mann unterhielt, der eine Kamera in der Hand hielt.
    Wenn er nicht in seinem Büro saß und über seinen Konstruktionsplänenfür irgendwelche Treppengeländer oder Hinterhofüberdachungen brütete, die er für Leute aus dem Viertel für Kleingeld entwarf und anfertigte, nachdem er als Mitarbeiter der polnische, Eisenbahn Polskie Koleje Pa ń stwowe S. A. ausgeschieden war, verbrachte der Vater die meiste Zeit mit seinen Kollegen von der PK P. Viele von ihnen waren alte und ungeschlachte Männer, deren müde Gesichter für einen Moment aufleuchteten, wenn sie über ihre Kindheit, ihre schönen Jahre bei der Bahn und später – bereits betrunken – sentimental wurden und von der Liebe redeten.
    Adam dachte daran, wie der Vater mit ihnen, als sie noch Kinder waren, an den Wochenenden an der Rawa Aale fing und wie ruhig und geschickt er die Tiere an den Leitnetzen entlang zur innersten Reuse lenkte, aus der es kein Entkommen mehr für sie gab. Und wie er ihn begleiten durfte auf seinen Streckennetzinspektionen, die ihn durchs ganze Land führten. Er saß neben ihm im Auto und, später in den Mittagspausen, zwischen den Arbeitskollegen in kleinen dunklen Gasthäusern. Den Geruch von Schweiß, Tabak und Dieselöl und ihre Stimmen und ihr Lachen vergaß er nie mehr. Wie sie sich beim Sprechen ansahen, eine Zigarette anzündeten und noch einen letzten Witz erzählten, bis es Zeit wurde, weiterzufahren. Und nun, viele Jahre später, saß er in einem fast vollbesetzten gekaperten Bus und steuerte auf eine ungewisse Zukunft zu. Ohne seinen Vater.
    ***
    Nachdem Sirvan gegangen und Amina in einer Art Embryonalstellung eingeschlafen war, war Bertram leise aus dem Zimmer geschlichen. Er suchte einen Kaffeeautomaten.
    Beim Blick durch die verglaste Eingangstür auf die Amsterdamer Straße, wo die Scheinwerferlichter der durch den warmen Abend fahrenden Autos vorbeiwischten, dachte er: Maibach wird denken, ich bin verrückt geworden. Ich hätte wenigstensSylvia anrufen sollen. Fetzen von Musik wehten kurz zur offenstehenden Pforte herein, kamen näher, zogen

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