Ein deutscher Wandersommer
sagte: »Ach, du armer kleiner Junge, dass du das alles überstanden hast. Nun erzähl doch mal …« Danach kam der »böse Onkel«, der mich richtig rannahm und Fangfragen stellte. Die beiden wechselten sich ab – nach dem Motto »Mal Zuckerbrot, mal Peitsche«, aber ich blieb bei meiner Geschichte, die ja schließlich wahr war. Natürlich wurden damals Spione eingeschleust, aber doch keine 16-Jährigen, denen man auch noch eine Kugel in den Rücken verpasste. Es war ein ganz seltsames Willkommen.
Ich erholte mich recht schnell von meiner Verwundung und wurde schon nach zwölf Tagen nach Wien in die Deutsche Botschaft und von dort weiter ins Notaufnahmelager Gießen geschickt. In Gießen wurde überlegt, wie es mit mir weitergehen sollte. Da ich erst 16 war, brauchte ich einen Vormund. In Stade lebte der Vater meiner Mutter, Opa Richard. Nachdem meine Angaben geprüft worden waren und sich Opa Richard bereit erklärt hatte, mich bei sich aufzunehmen, durfte ich nach Stade reisen, bekam aber jemand anderen als Vormund, da mein Großvater mit seinen damals bereits 82 Jahren dafür zu alt war.
Das Problem war, dass Opa Richard und ich uns eigentlich gar nicht kannten, wir hatten uns bis dahin nur ein einziges Mal gesehen. Und auch nun konnten wir keine Beziehung zueinander aufbauen. Mein Großvater war im Umgang mit Menschen sehr rau, wollte mich kontrollieren und über mich bestimmen, etwas, was ich mir auf keinen Fall mehr gefallen lassen wollte. Außer Fluchen und der Tatsache, dass man mit über achtzig noch viel Spaß im Bordell haben kann, habe ich von ihm nicht viel gelernt.
Ende April, als Cleo und ich losgewandert waren, hatten sich Bäume und Sträucher schon in frischem Grün gezeigt und waren die letzten Zugvögel aus ihren Winterquartieren zurückgekehrt. Seit unsere Winter im Mittel wärmer und schneeärmer werden und sich auch in der kalten Jahreszeit genug Futter finden lässt, verzichten mittlerweile manche Zugvögel immer öfter auf die Reise nach Süden. Beispiele sind der Star und die verschiedenen Drosselarten, wie Wacholder-, Mistel- und Schwarzdrossel. Andere suchen weiterhin ihre klassischen Winterquartiere auf – große Feuchtgebiete in Afrika –, wie der Storch oder die schnepfenartigen Limikolen, Schreitvögel mit langen Schnäbeln, die im Flachwasser nach Muscheln und Würmern suchen. Manche Arten, auch sehr kleine wie zum Beispiel der Triel, nehmen bei ihrem Flug in wärmere Gegenden keinen Umweg über fruchtbare Gebiete, etwa das Niltal, sondern fliegen die direkte Strecke über die Sahara. Um diese unglaubliche Leistung vollbringen zu können, fressen sich die Vögel in Deutschland Fettvorräte an. Wenn sich aufgrund der Erderwärmung die Wüstenregionen ausweiten, bedeutet das unter Umständen, dass die Vögel an Entkräftung sterben, bevor sie ihr Winterquartier erreichen. Und während im Winter manche einheimische Vogelarten Deutschland verlassen, kommen andere aus Skandinavien oder Sibirien hierher, wo es vergleichsweise warm ist, zum Beispiel Polar- oder Schneefinken, Seidenschwänze oder Tannenhäher und jede Menge Gänse.
Wer im Frühling zur Morgendämmerung in den Wald geht – speziell in einen Bergmischwald –, wird verblüfft sein, wie viele Vögel um einen herum piepsen, schilpen, krächzen und trillern. Dann herrscht Balzzeit, und wer sich da so stimmgewaltig Gehör verschafft, sind alles Männchen, die Weibchen geben nämlich keinen Ton von sich. Manchmal ist das Konzert derart vielstimmig, dass man denkt, es müsse künstlich verstärkt sein. Und es klingt derart grandios, dass es sogar Aufnahmen auf CD zu kaufen gibt. Wenn es dann hell wird und die Sonne aufgeht, erlischt das Konzert relativ schnell.
Viele der kleineren Waldvögel bekommt man nur schwer zu Gesicht. Nur wer sich für längere Zeit ganz ruhig hält und einfach mal abwartet, wird sehen, was da in einer Stunde so alles vorbeigeflogen kommt, den Baum hochläuft oder am Boden das alte Laub nach Sämereien, Würmern und dergleichen durchsucht: Bergfinken, Bluthänflinge, Dompfaffe, Stieglitze, Baumläufer, Haubenmeisen, Buntspechte, Buchfinken, Fichtenkreuzschnäbel …
Was für die Vögel gilt, gilt in Deutschland generell für Wildtiere: Intensive, nahe und spektakuläre Tierbeobachtungen sind extrem selten und erfordern entweder viel Glück oder enorme Geduld – weit mehr als in anderen Weltgegenden. Viele Tiere sind durch den Zivilisationsdruck sehr scheu
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