Ein deutscher Wandersommer
geworden, und manche ursprünglich tagaktiven Tiere sind nun dämmerungs- oder gar nachtaktiv. Anders ist es in den Nationalparks. Da lecken einem die Steinböcke das Salz fast aus der Hand, ziehen die Rothirsche durchs Schilf und durch die Riedflächen an der Müritz, und im Harz oder der Hohen Rhön sieht man das Birkwild oder gar das Auerwild balzen. Dazu muss man sagen, dass das relativ alte Schutzgebiete sind, in denen die Tiere den Menschen nicht als Bedrohung und Störfaktor wahrnehmen. In allen anderen Gebieten, in denen ein »normaler« Ablauf und vielleicht sogar Jagdbetrieb herrscht, findet man in der Regel höchstens Fährten oder sieht ein Tier mal irgendwo zwischen dunklen Tannen vorbeihuschen.
Für viele Menschen sind ja schon solche Begegnungen toll. Oft bekomme ich mit großer Begeisterung erzählt: »Ich hab ein Wildschwein im Wald gesehen.« – »Echt? Wie lange?« – »Na ja, vielleicht vier Sekunden, es kam zwischen den Bäumen raus, lief über den Waldweg und – zack! – in den nächsten Busch rein, und war verschwunden.« Dazu kann ich nur sagen: Die tollen Tierbeobachtungen, wie man sie im Fernsehen sieht, sind in der Regel das Resultat vieler Wochen, Monate, unter Umständen Jahre harter Arbeit.
Trotzdem kann man, wenn man mit wachen Augen unterwegs ist, vieles wahrnehmen; in erster Linie kleine oder langsame Tiere, im Frühjahr besonders Amphibien, wie Berg-, Teich- oder Fadenmolche oder Kröten. Und Käfer. Interessant ist auch das Leben im Ameisenhaufen, in einem Gebirgsbach oder einem kleinen Waldsee. Will man mehr, muss man sich Zeit nehmen und sich auf die Natur einlassen, sich mit einem Fernglas ein ruhiges Plätzchen in einem Wald suchen, einfach mal in ihn hineinhören und beobachten. Nicht zur Mittagszeit, wenn die Tiere des Waldes schlafen, sondern in den Morgen- und Abendstunden. Es ist erstaunlich, was da alles um einen herum kreucht und fleucht. Da hoppelt ein Waldhase fünf Meter an einem vorbei. Von irgendwo kommt ein Fuchs, der auf der Suche nach Beute ist oder mit einem Fang zu seinem Bau zurückkehrt. Da zieht ein Reh oder eine Ricke mit ihrem Kitz über die Waldlichtung. Wenn man Glück hat, sieht man sogar, wie das Kitz gesäugt wird.
Das erzähle ich auch, wenn ich an Schulen Vorträge halte. Oft muss ich dabei feststellen, dass viele Kinder und Jugendliche nicht einmal häufig vorkommende Tiere oder Pflanzen (er)kennen und überhaupt wenig über die Natur wissen. Dann hoffe ich immer, dass ich mit meinen Vorträgen das Interesse und ein Naturbewusstsein wecken kann; dass ich ihnen vermitteln kann, wie schön und wertvoll die Natur ist. Denn nur, was der Mensch schön oder wertvoll findet, hält er für schützenswert. Einige wissen aber auch erstaunlich viel. Letztens hatte ich zu einem Vortrag in einer zweiten Klasse Tierschädel mitgebracht, und ein Mädchen wusste bei allen, zu welchem Tier sie gehörten. Da war ich wirklich baff.
Als Cleo und ich den Oberlauf der Saale, ein wildromantisches Flusstal mit vielen Felsen und ein Natur-Eldorado, hinunterwanderten, hatte ich kaum einen Blick für die herrliche Landschaft, denn es regnete ununterbrochen und war immer noch lausig kalt. Zu allem Überfluss kündigte sich eine Erkältung an.
Als ich unter der Hutkrempe hervor einen Blick zum Himmel riskierte, bot sich mir ein seltsamer Anblick. Hoch oben auf einem Felsen stand ein riesiger Hirsch – aus Metall.
»Jetzt müssten wir es für heute bald geschafft haben«, sagte ich zu Cleo, die von dem Wetter auch schon längst die Nase voll hatte. »Hirschberg kann nicht mehr weit sein. Hoffentlich bekomme ich da Aspirin.«
In der Altstadt von Hirschberg könnte man, wenn man ein paar Telefon- und Stromleitungen und das eine oder andere Straßenschild entfernen würde, einen Historienfilm drehen – nur dass alles ziemlich heruntergekommen aussieht. Aber es hat seinen Charme: Katzenkopfpflaster,Barockhäuser, und über dem Ort thront ein Schloss. Das Ganze malerisch eingebettet zwischen Wäldern, Wiesen, Saale und bewaldeter Felswand.
Natürlich heißt eine Apotheke in Hirschberg »Hirsch-Apotheke«. Das war ein recht seltsamer Laden. Ich guckte nach rechts: Naturheilkunde, Naturkräuter, homöopathische Mittel; dann nach links: Ah, da steht Aspirin; schließlich geradeaus: eine Poststelle. Das hatte ich auch noch nie gesehen. Eine Poststelle in einer Apotheke! Dann schweifte mein Blick weiter nach hinten in das alte mittelalterliche Gewölbe, und da gab es
Weitere Kostenlose Bücher